Von der Halbpacht zur Moderne

Das Prinzip der Halbpacht, im Europa der Frühneuzeit die vorherrschende Wirtschaftsform, war schon in der Antike bekannt: Der Grundbesitzer stellte Boden, Arbeitsgerät, Saatgut und Wohnraum zur Verfügung, der Pächter seine Arbeitskraft; der Ertrag des Bodens und der Arbeit wurde zwischen beiden Parteien geteilt. In Meyers Konversationslexikon von 1888 wird die Halbpacht als „noch heute weit verbreitet, namentlich im Süden Europas … in einem großen Teil von Asien, neuerdings auch in Südamerika …“ beschrieben. Und in seinem Buch „Mussolini ohne Maske“ schreibt Alfred Kurella noch 1931: „Dasjenige Gebiet, wo die Halbpacht am meisten verbreitet ist, ist die Provinz Toskana. 60 Prozent der Bauern sind hier Halbpächter. So ist es unverändert seit vielen Jahrhunderten.“

Francesco Giuntini Antinori (FG), Eigner der Fattoria Selvapiana im Gebiet des Chianti Rufina, und Giuseppe Mazzocolin (GM), ein aus Venetien stammender Lehrer, der seit den 1980er Jahren die Fattoria di Fèlsina der Familie seiner Frau im Chianti Classico führt, sprachen mit enos über die Verwandlung ihrer Region in eine moderne Weinbaulandschaft.

Giuseppe Mazzocolin (li) und Francesco Giuntini Antinori (re) stellten sich in den historischen Salons der Fattoria Selvapiana den Fragen von enos. (Fotos: E. Supp)

enos: Das System der Halbpacht hatte in der Toskana länger Bestand als im Rest Europas. Kann man sein offizielles Ende genau datieren?

GM: Ein klar definiertes Ende der Halbpacht hat es wohl nie gegeben. Das wäre wohl auch gar nicht möglich gewesen, denn die Personen, die früher als Halbpächter auf unseren Gütern gearbeitet hatten, wählten ja nicht alle auf einen Schlag die Lohnarbeit. Als ich auf Bitte des Vaters meiner Frau Gloria anfing, auf der Fattoria di Fèlsina zu arbeiten, gab es dort noch zahlreiche von Halbpächtern bewohnte Bauernhäuser. Und das, obwohl der Prozess der Aufhebung von Halbpachtverhältnissen schon viel früher eingesetzt hatte.

Ich erinnere mich noch gut an diese letzten, von Pächtern bewohnten Bauernhäuser Fèlsinas. Das hat mich damals sehr berührt, denn es waren die letzten ­Momente einer Geschichte mit weit zurückreichenden Wurzeln, in der das „podere“ so etwas wie eine Maßeinheit und damit die Bezugsgröße für persönlichen und gesellschaftlichen Reichtum war.

Der Übergang war dann ein langsamer, schleppender Prozess. Mit vielen Überbleibseln, die die Zeit überdauerten. Dass die einstigen Halbpächter – zumindest zum Teil – als Lohnarbeiter eingestellt wurden, brachte natürlich eine ebenso radikale wie notwendige Änderung der Idee von Arbeit und ihrer Organisation mit sich. Das Konzept fester Arbeitszeiten ist eines von ihnen: Unter dem System der Halbpacht hatten die Bauern als Pächter ja praktisch rund um die Uhr gearbeitet; so etwas wie festgelegte Arbeitsstunden kannten sie nicht.

FG: Vor allem aber ging der Prozess nicht nur friedlich über die Bühne. Ich arbeitete in diesen Jahren in der landwirtschaftlichen Gewerbeaufsicht in Piacenza. In der Regel fuhr ich mit dem Zug dorthin, manchmal aber auch mit dem Auto. Ich erinnere mich, wie ich einmal vom Hof fuhr und mich inmitten einer ­Gruppe streikender Pächter wiederfand. Ich hatte echte Todes­angst und musste, als ich die gerade neu gebaute Autostrada del Sole erreicht hatte, erst einmal anhalten, so sehr zitterte ich noch vor Aufregung.

Auf Selvapiana hatten wir ursprünglich 23 Bauern­häuser, von denen aber letztlich nur fünf oder sechs übrig blieben. Die anderen wurden verkauft; einige an die Pächter selbst, andere an reiche Florentiner. Irgendwie mussten die 400 Millionen Lire, mit denen das Gut damals verschuldet war, ja eingenommen werden.

Noch bis in die 1980er Jahre wurden in der Toskana Reben an übermannshohen Pfählen oder Bäumen emporgezogen. Handarbeit, wie hier beim Spritzen gegen Rebkrankheiten, war damals auch noch – wie in ganz Italien – weit verbreitet.

GM: Genau das passierte auch auf Fèlsina: Dort gab es bei meiner Ankunft noch 14 dieser „case coloniche“, aber das Gut war natürlich früher einmal viel größer gewesen.

enos: Welches war denn die tiefgreifendste Änderung, die das Ende der Halbpacht mit sich brachte?
FG: Die gesamte Landwirtschaft hat sich damals geändert. Allein auf Selvapiana mit seinen 110 Hektar Grund hatten wir zum Beispiel 206 Rinder, 30 Säue und 100 Schafe. Die Frauen verbrachten ihre Tage damit, auf den Hängen und Böschungen mit der Sichel Gras für das Vieh zu schneiden. Als im Verlauf des Krieges dann die Front in der Toskana angekommen war, haben sie uns mehr als 100 Stück Vieh gestohlen. Uns blieb nur, was wir noch auf einem weit entfernten Gut, der Badia a Coltibuono, besaßen.

GM: Das ist ein wichtiger Aspekt: Die gesamte agro-pastorale Realität früherer Zeiten ging mit der Auflösung der Halbpacht verloren. Auch auf Fèlsina gab es eine umfassende bäuerliche Mischkultur, die die gesamte Versorgung seiner Bewohner sicherstellte. Wir hatten Weinbau, aber auch Getreide, Schafe, Schweine – Schweineställe gab es bei praktisch jedem „­podere“ des Gutes.

enos: Das alles innerhalb ein und desselben Besitzes?

GM: Innerhalb ein und derselben „fattoria“, die unterschiedlich groß ausfallen konnte.

FG: Im Gebiet von Pontassieve war Selvapiana ja ein eher mittelgroßer Betrieb. Unser größtes „podere“ hatte zwölf Hektar Land, die anderen um die fünf oder sechs Hektar. Nipozzano, das Gut unserer Nachbarn, besaß deutlich mehr und größere Einheiten.

enos: Sie schildern die Vielfalt der landschaftlichen Produktion. Dem Toskanareisenden heute fällt dagegen die Vorherrschaft weniger Mono­kulturen auf: des Weins, des Getreides …

GM: … und natürlich des Olivenöls. Von dem wir 2014 allerdings nur sehr wenig produziert haben. Nur das, was die wenigen gesunden Pflanzen hergegeben haben.
FG: Genau! Wir haben das Öl zwar gepresst, es aber dann weggeschüttet, weil es ungenießbar war.

enos: Der Übergang von der Halbpacht zu modernen Kulturen war aber auch reich an Um- und Abwegen. So wurden im Weinbau der 1960er Jahre überall Massensorten ausgepflanzt, was der Qualität jenes Jahrzehnts nicht wirklich guttat. Erst in den späten 1970ern erreichten die Weine dann wieder das Niveau von Jahrgängen wie etwa 1945 oder 1947.

GM: Für die Landwirtschaft bedeutete der Übergang eine Zäsur. Auch ich habe Weine jener Jahrzehnte probiert und hatte denselben Eindruck. Es war der Augenblick, in dem der alte Weinbau im kleinen Maßstab nicht mehr ausreichte. Man musste die Flächen erweitern, sie mussten genügend Ertrag abwerfen, um die neuen Besitzstrukturen zu tragen. Da es ja jetzt keine Halbpächter mehr gab, sondern nur noch Arbeiter im Tagelohn, musste auch deren Arbeit quantifizierbar sein. Und natürlich ging diese Phase an der Qualität der Weine nicht spurlos vorbei.

Auf Fèlsina hatten wir einen Weinberg, den unsere Bauern immer als den besten für die Sangiovesetraube angesehen hatten. „Hier erreicht der Sangiovese Weltniveau“, sagten sie immer. Dann aber wurde 1956 genau dieser Weinberg Rancia von denselben Bauern aufgelassen, obwohl er zu unserem größten „podere“ gehörte, auf dem gleich zwei Familien mit insgesamt 20 Familienmitgliedern lebten. 1956 ist für mich deshalb von Bedeutung, weil in diesem Jahr ein schrecklicher Frost unserem ganzen Bestand an Olivenbäumen den Garaus machte.

FG: Der Frost damals war wirklich schrecklich. Auch bei uns mussten die Oliven zurückgeschnitten werden.

GM: Und das war deshalb besonders dramatisch, weil ein Betrieb wie Fèlsina damals hauptsächlich vom Verkauf von Olivenöl lebte. Das Öl wurde ja damals weithin noch als Lampenöl benutzt.

FG: Ich erinnere mich, dass in unserer Kapelle auf Selvapiana ein ewiges Licht mit „olio lampante“ brannte.

GM: Auch das hat zu den negativen Auswirkungen des Übergangs beigetragen. In dem Moment, in dem unser Öl nicht mehr in ausreichender Menge zur Verfügung stand, musste man auf die Produktion im restlichen Italien, in Neapel zum Beispiel, zurückgreifen. Die Geschichte des industriellen Olivenöls für den Alltagsgebrauch mit all ihren Folgeproblemen war geboren. Eine der Konsequenzen dieser Entwicklung ist die Tatsache, dass wir beim Kauf einer Flasche Olivenöl heute keine Ahnung von deren wirklichem Inhalt haben.

enos: Nicht nur die Produktion von Olivenöl wurde industrialisiert; ganz generell wirken einige Teile der Toskana heutzutage ziemlich industrialisiert. Ist auch dies ein Resultat des Übergangs zur Moderne?

GM: Nein, zunächst gab es den kulturellen Paradigmenwechsel, dann erst kam die Industrialisierung. Der Grund dafür ist einfach: Die Landwirtschaft litt, im Unterschied zur Industrie wurde ihr aber nicht geholfen. Dennoch gab es in der Toskana einen großen Respekt vor den Traditionen. Nehmen wir Siena, wo es bis heute praktisch keine Industrien gibt. Siena macht noch heute den Eindruck einer Stadt, die vor allem von der Landwirtschaft lebt …

Ein Besuch auf der Fattoria Selvapiana im Gebiet des Chianti Rufina ist ein Moment erlebter Geschichte. Im Salon des Gutes bewahrt Francesco Giuntini Antinori unzählige Fotos und Dokumente der mit den Giuntini verbundenen toskanischen Familien auf: der Strozzi, der Antinori, der Corsini, der Medici, der Guicciardini …

enos: … Florenz dagegen ist von Industrien umgeben. Hat diese Differenz noch etwas mit der alten Feindschaft zwischen den beiden Städten zu tun?

GM: Das glaube ich nicht. Ich sehe den Grund eher in der geografischen Lage von Florenz am Rande einer großen Ebene, während Siena auf den hügeligen Ausläufern der Crete Senesi erbaut wurde. Insgesamt aber muss ich, der aus einer anderen Region stammt, sagen, dass die Toskana ihr traditionelles Gefüge recht gut bewahrt hat. Die Menschen hier respektieren ihre Traditionen, auch was die landschaftliche Gestaltung ihres Territoriums betrifft.

enos: Sie respektieren die Traditionen, aber sich gegenseitig nicht immer, fast, als wäre die alte Feindschaft zwischen Siena und Florenz immer noch ­lebendig …

GM: Allerdings gibt es auch eine Art Kirchturms­mentalität, die nicht ausgesprochen toskanisch, sondern eher typisch italienisch ist. Italiens Regionen finden immer viel, was sie voneinander unterscheidet, und wenig, was sie eint. Ich glaube, es gibt kein zweites Volk auf der Erde, das sich selbst ständig so schlechtmacht wie die Italiener. Aber vielleicht bin ich ja auch Komplize dieser Haltung. Immer wenn ich heutzutage den Fernseher anschalte, frage ich mich ernsthaft: „Was mach’ ich bloß in diesem Land?“

Dieser Artikel wurde zuerst in enos 1/2015 veröffentlicht.
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