Nach heutigen Maßstäben scheint es unvorstellbar, und wirklich gesichert ist die Zahl wohl auch nicht: Im berühmten Hötel-Dieu von Beaune, Teil des historischen Hospitals „Hospices Civils de Beaune" der Weinhauptstadt des Burgund, sollen die Alten und Kranken, die hier zur Zeitenwende zwischen Mittelalter und Neuzeit gepflegt wurden, für den persönlichen Konsum ein Recht auf sage und schrei-be fünf Liter Wein am Tag gehabt haben. Ähnliches sei auch in anderen Spitälern der Fall gewesen, lautet das Narrativ. Um mit solch gigantischen Mengen kein Schindluder, sprich keinen Schwarzhandel, treiben zu können, galt im Hötel-Dieu des fernen Rouen die Regel, dass die Krankenschwestern die jeweilige Weinration nur unmittelbar vor den Mahlzeiten an die Patienten verteilen durften.
Selbst in Frankreich, wo Weinkonsum seit Jahrhunderten zur Ernährung gehört, klingt so etwas heutzutage mehr als exotisch. Immerhin ist Alkohol als Speisenbe-gleiter in Krankenhäusern dort inzwischen genauso undenkbar wie hierzulande. Obwohl: Wenn man genau hinschaut, wird man feststellen können, dass das erst seit 1957 (sie!) offiziell und definitiv der Fall ist und dass in Fachkreisen seit einiger eit pgar darüber debattiert wird, ob man den Rebensaft wieder zulassen soll, um das Wohlergehen der Kranken zu fördern. Wobei natürlich heute, anders als 1641, , als im Schwester-Spital von Lyon die Regel galt, für die Behandlung der Ruhr, des „flux de sang", immer ein halbes Dutzend Fässer voll zwei oder drei Jahre altem Wein vorrätig zu halten, auch andere Therapievarianten zur Verfügung stehen.
Nun ist zwar vom üppigen Weinkonsum im Spital von Beaune bis heute nicht viel mehr geblieben als die alljährliche große Versteigerungs-Party im November, bei der sich der europäische Weinhandel trifft, um eines der begehrten Fässer mit dem Wein der Hospices-Weinberge zu ergattern. Dennoch ist das noble Getränk hier wie in vielen anderen Stiftungen und Spitälern Mitteleuropas nach wie vor unverzichtbarer Bestandteil der täglichen Arbeit und sogar Basis des wirtschaftlichen Überlebens.
Der enorme Weinkonsum vergangener Zeiten hatte Gründe: Wein war nicht nur die lebensrettende Alternative zum vielerorts verseuchten oder zumindest stark verunreinigten Trinkwasser, sondern er bildete auch eine, wenn nicht sogar die bedeutendste Subsistenzquelle der Spitäler, wenn deren Stiftungskapital erst einmal aufgezehrt war. Das galt schon für das Hospiz von Beaune, das 1443 von Nicolas Rolin, dem Kanzler des Herzogs von Burgund, gestiftet und 1452 in Betrieb genommen wurde. Zwar finanzierte der seine Kreation zunächst lange Jahre aus Erträgen des Salzbergbaus in Salins-les-Bains, aber das sollte sich ändern.
An die Stelle des Rolin'schen Stiftungskapitals traten nach dem Tod des Gründers Einnahmen aus einem heutzutage etwa 60 Hektar großen Weinbergs besitz, der dem Hotel-Dieu über die Jahre durch weitere Stifter und Pfründner übereignet wurde. Hinzu kam das Vermögen kleinerer Einrichtungen aus den umliegenden Gemeinden, dank derer Beaune im 17.Jahrhundert eine Kapazität von 500 Alten- und Krankenbetten erreichte – eine in Europa ansonsten bis heute unerreichte Größe.
Es hatte Hospizgründungen wie die von Beaune bereits vor dem 15. Jahrhundert gegeben. Viele entstanden entlang der Pilgerwege nach Santiago de Compostela, andere nach dem Vorbild des bereits im frühen 8. Jahrhundert gegründeten römischen Heilig-Geist-Spitals Santo Spirito in Sassia, eines der größten mittelalterlichen Krankenhäuser Europas mit bedeutenden medizinischen Forschungsabteilungen. Hatten diese Einrichtungen ursprünglich meist einen kirchlichen Hintergrund, so änderte sich das nach dem 12. Jahrhundert.
Die Ursache für diese Entwicklung wird in der Regel im Konzil von Vienne der Jahre 1311/12 gesucht, auf dem Papst Clemens V. auch die Gründung von Stiftungen aus dem entstehenden Bürgertum für die Pflege der Armen und Kranken zuließ. Die Entscheidung, die in gewisser Weise den 1343 in der Bulle Unigentius Dei Filius offiziell definierten, später von Luther angeprangerten Ablasshandel mitbegründete, prägte auch den Stiftungsakt des Nicolas Rolin, der das Hospiz „im Interesse meines Seelenheils, danach strebend, irdische Gaben gegen Gottes Gaben zu tauschen", errichten ließ.
Die Freigabe von sozialer Arbeit und Pflege für nicht-kirchliche Initiativen erlaubte es 1316 dem Würzburger Patrizier Johannes von Steren, sein ,,Neues Spital", das spätere „Bürgerspital zum Heiligen Geist" zu gründen, eines der wenigen noch heute arbeitenden Heilig-Geist-Spitäler bürgerlichen Ursprungs. Es hatte in Würzburg zwar schon kurz vor der Jahrtausendwende ein Spital gegeben, aber das gehörte dem Bistum, so wie bis ins Jahr 1300 zwei weitere Hospize. Auch bei von Sterens Gründung war der Ablass, die „Exemption", wie es im kirchlichen Duktus hieß, ursächlich, der dem Würzburger dann 1317 vom Bischof von Chur gewährt wurde. Das Modell machte Schule: Noch heute gibt es in der Stadt sage und schreibe 110 Stiftungen auf 100.000 Einwohner -ein absoluter Rekord.
Auch von Steren finanzierte das Bürgerspital bis zu seinem Tode 1329 aus dem eigenen Vermögen, erst danach kam es zu weiteren Zustiftungen und Schenkungen durch Pfründner – in der Regel wohlhabende ältere Bürger der Stadt, die sich durch die finanziellen Zuwendungen Unterbringung und Pflege bis zum Tode sicherten, sich auf diese Weise praktisch ins Spital einkauften. Erstaunlich ist, wie lange sich die Institution der Pfründner hielt. Wie Robert Haller, der Weingutsleiter des Bürgerspitals, weiß, verstarb der letzte erst um das Jahr 2000 herum - die gesetzlich verankerte Pflegeversicherung hatte die Einnahmen aus den Pfründen überflüssig gemacht und lässt auch den Weinbau inzwischen fast verzichtbar erscheinen. ,,Wir sind einer der größten Nebenerwerbswinzer Deutschlands", lacht Haller, ,,das Geld wird vor allem mit unseren insgesamt sechs Alten- und Pflegeheimen und mit Immobilien gemacht." Immobilien und Wein wiederum erlauben es, die Pflegeeinrichtungen mit einer gewissen finanziellen Großzügigkeit zu betreiben.
Neben den Pfründnern fanden – das schrieb die Exemptionsurkunde vor – natürlich auch Arme und Kranke Aufnahme, aber deren Aufenthalt war deutlich weniger luxuriös. Solche sozialen Unterschiede schlugen sich auch in der täglichen Weinration nieder, die den Insassen des Bürgerspitals zugestanden war: Während die reichen Oberpfründner, die wohl in den besseren Etagen lebten und oft von jeglicher Arbeit freigestellt waren, in guten Jahren Wein beanspruchen konnten „sovil sie zur notturfft betorffen", was in der Regel wohl anderthalb Schankmaß oder knapp zwei Litern am Tag entsprach, mussten sich die weniger wohlhabenden Unterpfründner mit einem Schankmaß alias 1,22 Litern zufrieden geben. Diese Angaben werden allerdings, zu-mindest was ihre Gültigkeit im Spitalalltag betraf, heute gelegentlich ebenso in Frage gestellt, wie die erwähnte Fünf-Liter-Ration der Hospices de Beaune.
Vielleicht sind deshalb die Angaben zur Tagesration im zweiten der großen Würzburger Spitäler, dem Juliusspital, realistischer, wo man den Patienten nur ein Schankmaß am Tag zugestand – an Feiertagen dafür allerdings Spitzenwein aus den besten Lagen, wie es der Historiker in Diensten des Spitals, Markus Frankl, in einem Beitrag zu Artur Dirmeiers Sammelband „Essen und Trinken im Spital" nachzeichnet. Berücksichtigen muss man dabei, dass das Juliusspital deutlich später gegründet wurde: unter den klimatischen Bedingungen der kleinen Eiszeit, den politischen des Dreißigjährigen Kriegs – die Besatzer mussten mit Wein versorgt werden, was das Angebot für die Spitalbe-wohner reduzierte – und unter dem Einfluss der beginnenden Konkurrenz des Bieres.
Das 1576 gegründete Juliusspital, nur wenige hundert Meter vom Bürgerspital entfernt, war darüber hinaus in vielen Punkten anders konzipiert als der Nachbar. Es war eine kirchliche Gründung – Stifter war Julius Echter von Mespelbrunn, der Fürstbischof von Würzburg, der das Stiftungskapital allerdings aus seinem Privatvermögen stellte –, die sich bei der Suche nach einem geeigneten Grundstück recht unverfroren des jüdischen Friedhofs der Stadt bediente und zeitweise über die zweifelhafte Einrichtung eines Kinderhexengefängnisses verfügte. Sie war von Anfang an wie auch heute noch deutlich mehr auf die medizinische Versorgung ,,für alle Arten armer, kranker, hilfsbedürftiger und behinderter Menschen, die rundum ärztliche Versorgung benötigen" ausgerichtet, weshalb auch das „Sich-Einkaufen" ins Spital durch reiche Bürger ausdrücklich verboten war.
Im Bereich der Spitalsgründungen gab es die verschiedensten Modelle. Kirchliche und bürger-liche Stiftungen, solche, die sich auf medizinische Leistungen spezialisierten, und andere, in denen es vorrangig um Altenpflege ging, Institutionen für Arme und für Wohlhabende und schließlich solche mit und solche ohne eigenen Weinbau.
Die meisten Stiftungen mit eigenem Weinbau – ganz gleich, ob der durch Zustiftungen von außen oder das Pfründnertum entstanden war, ob mit oder ohne Hospiz bzw. Spital, sind heute in der Vereinigung Europäischer Stiftungsweingüter organisiert. Zwar gehört das große Vorbild Beaune nicht dazu – wenn man den Gründern der Vereinigung glaubt, erhielten die auf eine entsprechende Anfrage wie auch enos mit einer Rechercheanfrage nicht einmal Antwort –, dafür aber jede Menge anderer renommierter Häuser: die beiden Würzburger Spitäler genauso wie das Cusanusstift in Bernkastel-Kues, die Vereinigten Hospitien in Trier, das Höpital Pourtales und die Domaine de la Bourgeoisie in der Schweiz, die bei Touristen beliebten Hospices de Strasbourg mit ihrem Weinkeller, Spitäler in Speyer, Konstanz, Ittingen, Burgen und Klöster in Ortenberg oder dem Bozener Stadtteil Gries und natürlich, wie erwähnt, das von Zisterziensern gegründete Rheingauer Kloster Eberbach.
Für die Mönche von Kloster Eberbach bei Eltville im Rheingau war die medizinische Versorgung Kranker integraler Bestandteil ihrer Arbeit. Daran erinnert noch heute der unter der Vinothek gelegene Hospitalkeller, in dem man sich aber heute kaum noch vorstellen kann, dass hier einmal Krankenbetten gestanden haben sollen. Nimmt man die Verbindung von Wein und Spital wörtlich, dann war sie wohl nirgends so eng wie hier im Rheingau – abgesehen davon, dass beide sich in der Zeit ablösten: Im Gewölbekeller des Klosters waren nämlich zuerst Kranke untergebracht, nach 1635 und dem Abzug der schwedischen Besatzer aus dem Dreißigjährigen Krieg kamen die Weinfässer. Auch die letzten Mönche verschwanden als Folge der Napoleonischen Säkularisierung – an ihre Stelle traten Angestellte, die sich um Weinbau, Veranstaltungen und Museum kümmern; das Kloster selbst gehört inzwischen der Hessischen Landesregierung.
Napoleon hatte auch in Trier gewütet. Nicht ganz so wie auf anderen seiner Tätigkeits- oder besser Schlachtfelder, aber doch mit nicht zu übersehenden Auswirkungen, genauer gesagt, durch Schaffung eines regelrechten Konzerns sozialer Einrichtungen – allerdings ohne ausgesprochenes Krankenhaus. Er erließ ein Dekret, mit dem diverse kirchliche Hospize aus dem 12. bis 18. Jahrhundert enteignet und unter eine gemeinsame, zivile Verwaltung gestellt wurden.
Ziel und Zweck der neugeschaffenen Institution auf dem Gelände des vormaligen Stifts Sankt Irminien am Moselufer war die Pflege und Betreuung Alter, Kranker und Behinderter – später kamen spezialisierte Einrichtungen wie ein Gehörloseninternat und eine Ausbildungsstätte für Pfleger hinzu. Auch das VDP-Weingut Vereinigte Hospitien zählt zu den großen Erzeugern Deutschlands, aber hier ist die Verbindung zwischen Hospiz und Wein noch enger und vor allem älter, als es das Gründungsdatum vermuten lässt: Nicht nur stammt der Weinkeller unter dem Römersaal von Sankt Irminien zumindest zum Teil noch aus der Römerzeit, in der Buchhaltung des Sankt-Jakobs-Hospizes, einer weiteren einstigen Raststation für Pilger nach Santiago de Compostela, die Bestandteil der Hospitien wurde, ist aus dem Jahre 1464 auch der älteste deutsche Riesling dokumentiert, zwei historische Besonderheiten, die selbst die Geschichte des renommierten Hötel-Dieu von Beaune in den Schatten stellen. Von dem, davon abgesehen, im Unterschied zu vielen anderen, noch aktiven Spitälern ohnehin nicht mehr viel übrig ist als eine Touristenattraktion mit angegliedertem Altersheim.
Dieser Artikel wurde zuerst in enos 2/2021 veröffentlicht.
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