Vom Wissen und vom Zweifel

von Eckhard Supp

85.000! Das ist die Anzahl Links, die eine Google-Suche nach dem Ausdruck „Mehrheit der Wissenschaftler“ auswirft, wenn man nach der exakten Wortfolge sucht. Wer dagegen nach den drei Worten ohne festgelegte Reihenfolge sucht, erhält sogar 2,2 Millionen Resultate. Eine gewaltige Zahl, wenn man berücksichtigt, dass selbst der Begriff „Klimakatastrophe“ „nur“ 2,6 Millionen Ergebnisse zu Tage fördert, der „Klimawandel“ dann immerhin viermal so viel. Ohne die genannten Zahlen überzubewerten, glaube ich doch, dass sie einen Eindruck davon geben, wie oft wir in Diskussionen, Artikeln, Büchern zu dieser und ähnlichen Floskeln greifen: „Die übergroße Mehrheit der Wissenschaftler sagt …, ist der Meinung, dass …“, „Fast alle wissenschaftlichen Studien beweisen, dass …“, „Es ist wissenschaftlich eindeutig bewiesen, dass …“, und immer so weiter. Fragt sich nur, ob diese Formeln überhaupt etwas aussagen, wie wissenschaftlich sie selbst sind. Oder ob Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit nicht eher von etwas ganz Anderem leben – vom Zweifel.

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Mal ehrlich! Haben wir nicht alle schon mal bei Formeln wie den erwähnten halbwissend, halbweise, beifällig genickt. Und haben nicht viele von uns Veröffentlichungen für besonders glaubwürdig gehalten, in denen es etwa hieß, „Fakt ist: Weit mehr als 90 Prozent der Klimaforscher sind überzeugt, dass der Mensch den gegenwärtigen Klimawandel verursacht“ (zitiert nach www.klimafakten.de). Talkshows und Nachrichten füllend waren und sind derartige Äußerungen, die sich vor allem in Krisenzeiten und bei Journalisten – darauf bin ich an anderer Stelle bereits eingegangen – besonderer Popularität zu erfreuen scheinen. Übrigens: auch wenn hier von der Klimadebatte die Rede ist: Dies ist kein Text über das Klima und den Klimawandel. Es geht um Wissenschaft, gern auch fälschlich als „die“ Wissenschaft apostrophiert. Besser gesagt um das, was viele dafür zu halten scheinen, darum, wie wir mit dieser Wissenschaft umgehen oder umgehen sollten.

Immer wird mit solchen Floskeln mehr oder weniger implizit unterstellt, dass alles, was sich „Wissenschaftler“ oder „Experte“ nennt, automatisch für die entsprechende Aussage qualifiziert sei, alles, was sich „wissenschaftlich“ gibt, automatisch richtig und wahr. Und irgendwie wird umgekehrt suggeriert, dass alle, die sich kritisch über die eine oder andere wissenschaftliche Studie äußern, Verschwörungsschwurbler, Wissenschaftszweifler seien. So konnte man es kürzlich in einem Tweet lesen: „Das Witzigste an KlimawandelleugnerInnen ist ja, dass sie es allen Ernstes für möglich halten, dass ein paar 10.000 WissenschaftlerInnen und grüne PolitikerInnen weltweit so effektiv kooperieren, dass sie den Rest der Menschheit seit Jahrzehnten an der Nase herumführen.“

Klar gibt es unter den Wissenschaftskritikern Anhänger von Verschwörungstheorien und religiöse Fanatiker, wie etwa die vor allem in den USA starken Evolutionsleugner in ihren christlichen und unchristlichen Sekten, oder auch Liebhaber der „Erdscheiben“-Theorie, die aus ihrer Kleingartenperspektive keine Krümmung des Horizonts zu entdecken vermögen.

Sicher auch gibt die psychologisierende Interpretation, wie sie etwa kürzlich auf tagesschau.de ins Spiel gebracht wurde, die Motivlage beim einen oder andern dieser Zweifler richtig wieder. „Das (Leugnen des menschengemachten Klimawandels, E. S.)“, wird dort der Psychologe Rainer Bromme zitiert, „hat weniger sachliche, sondern vor allem psychologische Gründe…“, „Identitätsfragen“, „Identitätskonstrukte“, „Ängste“. Aber eben auch nur beim einen oder anderen, und wer wie Bromme es implizit andeutet, die Zweifler grundsätzlich oder zumindest mehrheitlich (“ vor allem psychologische Gründe“) für psychisch gestört hält, sollte erst einmal in den eigenen Spiegel schauen. Das Problem liegt woanders. Genauer: Es liegt in der Wissenschaft selbst und in ihrer Rolle in unserer Gesellschaft, und zwar nicht nur in Randbereichen, sondern auch und gerade im "Herzen" der Wissenschaft und bei „wissenschaftlichen Mehrheiten“.

Die Wurzel der Probleme ist, dass
sich in der modernen Welt die Dummen todsicher sind, die
Intelligenten voller Zweifel (Bertrand Russell).1

Mitte der 1990er Jahre hielt ein Forscher der Universität Mainz einmal einen Vortrag, in dem er die Resultate einer Metastudie zum Thema Wein und Gesundheit vortrug. Die erstaunlichste These – immerhin waren die untersuchten Studien in wissenschaftlichen Journalen veröffentlicht worden – war, dass etwa die Hälfte der untersuchten Publikationen offenbar keinerlei wissenschaftlichen Basics und Standards genügten, ganz gleich, ob sie pro oder contra Wein (Alkohol) waren. Nicht alle oder gar die Mehrheit, aber immerhin die Hälfte. Beachtlich!

Regelrecht plump war, um beim Thema Gesundheit zu bleiben, eine vor nicht allzu langer Zeit im Auftrag des britischen Gesundheitsministeriums erstellte Studie, die ich vor einigen Jahren auch in enos kritisierte: In ihr war zu lesen, dass selbst moderater Wein(Alkohol)konsum bei Frauen das allgemeine Krebsrisiko, besonders aber das Brustkrebsrisiko signifikant erhöhten. Einmal davon abgesehen, dass sich das „signifikant“ als eine Steigerung um 0,1 bis 0,3 Fälle pro 100.000 Probanden herausstellte, hatten die Autoren der Studien beim Schreiben der in den Medien zitierten Zusammenfassung offenbar nicht einmal ihre eigenen Charts – weiter hinten im Bericht zu finden, wo selten ein Journalist hinschaut – richtig wiedergegeben. Diese belegten nämlich, dass zwar schon bei moderatem Konsum die Brustkrebsrate geringfügig anstieg, das allgemeine Krebsrisiko aber erst bei gesteigertem und dauerhaftem Alkoholkonsum. Auftrag des Ministeriums erfüllt?

Eine ähnliche Glanzleistung ging erst kürzlich durch die Medien. Berichtet wurde von einer Studie zum Thema männliche Gewalt in Partnerschaften, die staunen machte. „Statistischer Unsinn“ qualifizierten – diesmal zum Glück recht schnell – Statistiker die Zahlen dieser Studie ab, was nicht verhinderte, dass diese dennoch in journalistischen Publikationen „die Runde“ machte. Wahrheit in der Wissenschaft?

Die „Unbeflecktheit“ der Wissenschaft, eine der ideologischen Grundlagen der im 18., 19. Jahrhundert einsetzenden Moderne mit ihrem Fortschrittsglauben, war dabei, folgt man dem Politologen Wolf Schäfer in einem 1987 in „Die Zeit“ veröffentlichten Artikel, schon Mitte des letzten Jahrhunderts ge- oder gar zerstört. „Nach dem Ersten Weltkrieg zog der kollektive Glaube an einen kontinuierlichen Forschritt zum Besseren scharfe Kritik auf sich … Die gegenwärtige Version des Fortschritts ist von einer historisch gewachsenen Desillusionierung geprägt“, einer Desillusionierung, die sich spätestens seit der menschenverachtenden Aufgabe, die der Wissenschaft im Dritten Reich zugewiesen wurde, breitgemacht hatte. Diese Aufgabe, der die Intelligenz (nicht erst) mit dem Machtantritt der Nazis massenhaft, wenn nicht sogar mehrheitlich anhing, bestand dann etwa darin, sich dann mit Menschenversuchen im KZ und „wissenschaftlich“ begleiteter Euthanasie in den Psychiatrien des Landes „einen Namen“ zu machen. Das eindrucksvolle „LTI – Notizbuch eines Philologen“ von Viktor Klemperer legt von dieser massenhaften Ideologisierung der akademischen Welt Zeugnis ab.

Nun würde es Anlass und Zweck dieser Zeilen sprengen, wollte ich versuchen, eine Moraldiskussion über Verdienste oder Schandtaten der Wissenschaft zu führen. Einmal abgesehen davon, dass der eine oder andere Zyniker dann immer noch behaupten würde, die Wissenschaftler, die den Einsatz von Zykloon B in den Gaskammern vorbereiteten oder an der Raketentechnik der V2 tüftelten, hätten ja gute Arbeit geleistet, und die Ergebnisse ihrer Arbeit seien sachlich richtig gewesen – wie ihr Wissen dann verwendet wurde, sei nicht ihr Problem. Bleiben wir also lieber, wie es heute neudeutsch heißt, bei den Facts.

Die Mehrheit? Welche Mehrheit?

Das erste, was in diesem Zusammenhang interessiert, ist die Frage, wie Angaben vom Stil der erwähnten „mehr als 90 Prozent der Klimaforscher“ überhaupt zustande kommen. Werden da einschlägige Studien zu den Ursachen des Klimawandels ausgezählt, und wenn, wie geht das methodisch vonstatten? Oder wird vielleicht unter den Klimaforschern abgestimmt? Ganz demokratisch?

Dazu fand sich vor einigen Jahren ein interessanter Artikel in „Der Spiegel“. Gegenstand: eine Metastudie von Wissenschaftlern verschiedener Universitäten (Queensland, Reading, Michigan und Newfoundland), die von Klimaaktivisten Zusammenfassungen (sic!) tausender Klimastudien danach hatten auswerten lassen, ob sie den menschengemachten Klimawandel als Fakt und Voraussetzung für ihre Forschungen betrachteten. Das angebliche „Ergebnis“ der Untersuchung: Bei 97 % der Studien sei dieses Apriori gegeben. Was in der Metastudie und ihrer Rezeption gerne verschwiegen wurde: Zwei Drittel der ausgewerteten Einzelstudien hatten in der Frage überhaupt keine Position bezogen – vielleicht der Tatsache geschuldet, dass sie diese Feststellung gar nicht für notwendig erachteten, aber diese Vermutung ist rein hypothetisch.

Die Mehrheit der Wissenschaftler ist sich einig: Der Klimawandel ist menschengemacht. (Fotos: E. Supp)

Die „97 %“ bezogen sich also nur auf das Drittel der ausgewerteten Klimastudien, die eine dezidierte Meinung zum Thema artikuliert hatten. Mehr noch: Während sich die Forscher, die in ihren Papieren eine entsprechende Position bezogen hatten, zumindest über den prinzipiell anthropogenen Charakter des Klimawandels einig schienen, herrschte offenbar in den meisten der mit dieser These verknüpften Detailfragen noch große Uneinigkeit, so jedenfalls der „Spiegel“-Artikel, der entsprechende Äußerungen von Wissenschaftlern zitiert – etwa die eines Meteorologen der Universität Bonn, der konstatiert, bei den meisten Fragen, wie etwa der über den tatsächlichen Anteil der anthropogenen Faktoren am Gesamtphänomen, herrsche eben keine Einigkeit.

Aber gehen wir einmal davon aus, zum Thema Klimaforschung seien sich fast alle Wissenschaftler selbst in den Detailfragen einig. Was bedeutet das? Ist das wirklich ein Beleg für wissenschaftliche Stimmigkeit?

Vor einigen Monaten war auf „arte“ eine Dokumentation zum Thema der Besiedlung Amerikas durch den Menschen zu sehen. „Die ersten Menschen könnten“, so wurden dort die Ergebnisse jüngerer Radiokarbondatierungen referiert, „Amerika bereits 30.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung besiedelt haben, also 15.000 Jahre früher als bislang angenommen … (und) die ersten Zuwanderer könnten sowohl auf dem Land- als auch auf dem Seeweg gekommen sein.“ Das Interessante am zitierten Forschungsergebnis, das heute offenbar kaum noch angezweifelt wird, waren dabei nicht die gemachten Zeitangaben, sondern die Tatsache, dass „die Wissenschaftsgemeinde … sich lange von diesen alternativen Thesen (distanzierte).“ Die Wissenschaftsgemeinde? Vielleicht gar die Mehrheit der Wissenschaftler?

Neu wäre das in der Wissenschaftsgeschichte nicht. Ein Newton, ein Darwin, ein Einstein und viele andere, denen wir wirkliche wissenschaftliche Großtaten verdanken, hatten lange Zeit die Mehrheit der Wissenschaftler nicht hinter, sondern gegen sich, und da spreche ich noch nicht einmal von den Giordano Brunos oder Galileo Galileis der Geschichte, denen nicht nur eine drakonische Kirche, sondern auch die mit deren Segen arbeitenden Wissenschaftler gegenüber standen.

„Die Newton’sche Dynamik wurde weithin abgelehnt“2; schreibt Thomas S. Kuhn, amerikanischer Physiker und Wissenschaftshistoriker, in seinem 1962 erschienenen „The Structure of Scientific Revolutions“ (Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen), und von Darwin wird berichtet, dass seine Reise auf die Galapagos-Inseln so etwas wie seine letzte Chance war, die massiv gegen ihn eingestellte Londoner akademische Gesellschaft von seiner Evolutionstheorie zu überzeugen. Kuhn zitiert ihn deshalb nicht überraschend mit den Worten “Ich erwarte auf keinen Fall, erfahrene Naturforscher zu überzeugen, deren Geist voller Fakten ist, welche über Jahre hinweg von einem Standpunkt aus betrachtet wurden, der dem meinigen direkt entgegengesetzt ist … Aber ich schaue voller Vertrauen in die Zukunft.“3

Die hitzigsten Verteidiger einer Wissenschaft,
die nicht den geringsten scheelen Seitenblick
auf dieselbe vertragen können, sind
gemeinlich solche Personen, die es nicht sehr weit
in derselben gebracht haben und sich dieses Mangels
heimlich bewusst sind. (Georg Christoph Lichtenberg)

Was Einstein betrifft, der 1905 im Nachgang zur seiner Speziellen Relativitätstheorie die berühmte Formel e=mc2 veröffentlichte, so musste auch er warten, bis die wissenschaftliche Gemeinde seine Theorie akzeptierte – 1909 geschah das zum ersten Mal durch den Physiker Max Planck; allgemeine Anerkennung stellte sich dann erst ab 1919 ein, nach anderthalb Jahrzehnten. Hatte er deshalb Unrecht, weil die „Mehrheit der Wissenschaftler“ mit seinen Theorien so lange nichts anfangen konnte?

„Science for the public“, eine US-basierte NGO, listet in einem Artikel mit dem Titel „Resistance to New Ideas“ eine ganze Reihe solcher „Resistenzen“ gegen wissenschaftliche „Großtaten“ auf: Zu diesen gehörten die Entdeckung des Atoms („… die Vorstellung schien für die meisten … Zeitgenossen vollkommen fremd.“4, der Big Bang, die Existenz von Exoplaneten, die bereits erwähnte Evolutionstheorie („sehr renommierte Wissenschaftler attackierten Darwins Theorie“5, die Existenz von Prionen oder auch die Tatsache der Kontinentalverschiebung.

Fälscher und Schlamper am Werk

„Die“ Wissenschaft kennt nicht nur „Großtaten“, von der Mehrheit akzeptiert oder nicht, sondern auch jede Menge Irrtümer oder bewusst produzierter Fakes. Es sind vor allem vier Phänomene, die immer wieder berechtigte Zweifel an ihr aufkommen lassen. Das erste hat damit zu tun, dass auch Wissenschaftler nur Menschen mit all ihren Schwächen und Eitelkeiten sind. Paradebeispiel dafür sind die Forschungen der renommierten, von der Fachwelt geachteten amerikanischen Ethnologin Margaret Mead, die in den 1920er Jahren auf Samoa 25 Mädchen unter anderem nach ihrem Sexualleben befragte und daraus ein offenbar, wie ihr später vorgeworfen wurde, von eigenem Wunschdenken geprägtes, überzeichnetes Bild einer gewaltfreien, libertären Gesellschaft malte, das späteren Forschungen nicht standhielt. Dass Mead der samoanischen Sprache zumindest anfänglich nicht mächtig war, führte zum Vorwurf, sie habe sich von den Mädchen buchstäblich hereinlegen lassen.

Das zweite Phänomen, das man eigentlich gar nicht unter wissenschaftlichen Aspekten behandeln sollte, sondern eher unter juristischen oder kriminalistischen, betrifft bewusste, gezielte Fälschungen. Die Spuren solcher „Fälscher“ reichen weit in der Geschichte zurück, und als einer der prominentesten wird oft der venezianische China-Reisende Marco Polo gehandelt. Der soll, glaubt man den Kritikern, seine berühmte Reise im Unterschied zu seinem Vater und Großvater nie angetreten oder zumindest nicht vollendet haben – das jedenfalls wird aus der Tatsache geschlossen, dass in Polos detaillierten Reisenotizen Essenzielles schlicht fehlt: etwa die Chinesische Mauer, die auf seiner Reiseroute gelegen haben müsste, oder die Tatsache, dass Chinesen mit Stäbchen essen, ein unübersehbares Element der Alltagskultur.

Kann man den Historikerstreit um Marco Polo noch als Kuriosität der Wissenschaftsgeschichte abtun, fällt das bei aktuelleren Fälschungen schon schwerer, und da muss man nicht einmal absurd wirkende Extremfälle, wie die vor einiger Zeit publizierten Angaben eines koreanischen Wissenschaftlers bemühen, der erstmals einen Menschen geklont haben wollte. Vor etwa einem Jahr war in der Frankfurter Allgemeinen ein Artikel zu lesen, in dem es hieß: „In der Community der Alzheimer-Forschung herrscht Aufruhr. Die etablierte Theorie zur Entstehung dieses Leidens, die über Jahrzehnte das Fundament der Wissenschaft und der Suche nach Medikamenten gebildet hat, scheint in Verruf geraten. Was ist geschehen? Einem Wissenschaftler wird unter anderem vorgeworfen, eine viel zitierte Studie, die 2006 im weltweit renommierten Fachjournal Nature erschien, gefälscht und dadurch die Medikamentenforschung über Jahre in die Irre geführt zu haben.“ Wohl gemerkt: „die etablierte Theorie“.

Wenige Wochen zuvor hatte der Sender „n-tv“ in anderem Zusammenhang berichtet: „Die CIA hat falsche wissenschaftliche Artikel in Fachzeitschriften platzieren lassen“, etwas, was in Zeiten der Peer-Reviews eigentlich unvorstellbar sein sollte. Ähnliches geschah offenbar auch in der hitzigen Debatte um die richtige Pandemie-Politik. So erklärte der Hamburger Virologe Schmidt-Chanasit auf „phoenix“, ein hochrangiges Wissenschaftsjournal habe eine Studie über das Medikament Hydroxychloroquin veröffentlicht, die alle Wissenschaftler überraschte. Es habe sich dann aber herausgestellt, dass die Daten für diese Studie gefälscht waren. Der „Spiegel“ sekundierte: „Die US-Firma Surgisphere stellt eine globale Patientendatenbank für Studien bereit – doch die ist offenbar ein gewaltiger Schwindel.“ Und sprach vom wohl größten Wissenschaftsskandal der Coronakrise.

Nun kann man sich damit trösten, dass viele dieser krassen Fälschungen früher oder später entdeckt werden, was allerdings nicht verhindert, dass dann eventuell bereits falsche medizinische, politische, gesellschaftliche Konsequenzen aus ihnen gezogen wurden. Das gilt auch für Fehler und Schlampereien, die leider häufig erst spät ans Tageslicht kommen. Manchmal passieren diese nicht einmal den eigentlichen Urhebern, sondern ihren Übersetzern, vor allem den Übersetzern der Übersetzer! Und das führt dann zu Merkwürdigkeiten, wie etwa die, auf die ich bei der Lektüre des französischen Phänomenologen Merleau-Ponty stieß. Und die ich nicht einordnen konnte, bis ich erfuhr, dass die deutsche Übersetzung nicht direkt aus dem Französischen erfolgt war, sondern auf Basis einer ersten Übersetzung ins Englische aus der Feder eines Veterinärs, nicht eines Philosophen.

In der Weinszene galt es lange als ausgemacht, und ich selbst habe das brav berichtet, dass die menschliche Zunge in klar abgrenzbare Zonen für die Geschmacksempfindungen süß, sauer, salzig und bitter – später kam noch umami hinzu – unterteilt sei. Bis vor Jahren gezeigt wurde, dass es diese Zonen gar nicht gab. Entstanden war der Mythos, wie der amerikanische Biologe Stuart Firestein schreibt, durch eine übertriebene Übersetzung: „Das Ganze entstand aus der falschen Übersetzung eines deutschen Physiologie-Lehrbuchs des Professors D. P. Hanig, der angab, seine sehr anekdotischen Experimente hätten gezeigt, dass Teile der Zunge mehr oder weniger empfindlich für die vier Geschmacksempfindungen seien: Weniger, wie sich zeigte, als die Experimente sorgfältiger durchgeführt wurden … Das Hanig’sche Werk wurde 1901 veröffentlicht, und die Übersetzung, die seine Befunde übertrieb und den Mythos kanonisierte, stammte vom berühmten Harvard-Psychologen Edward G. Boring.”6

Intuition oder wissenschaftliches Einmaleins - mit dieser Frage müssen sich auch die renommiertesten Universitäten (im Bild der Eingang zur Harvard University) auseinandersetzen. Hier arbeitete der Psychologe Boring, dem die Fachwelt die legendäre, aber falsche Übersetzung der Befunde über die Geschmacksempfindungen der menschlichen Zunge verdankt.

Die bekannteste solcher Schlampereien stammte aus dem Bereich der medizinischen Forschung und betraf den angeblich extrem hohen Eisengehalt von – deshalb gesundem – Spinat, bei dessen Berechnung schlicht das Komma um eine Zehnerstelle verrutscht war, was aber offenbar jahre- oder jahrzehntelang niemandem auffiel. Ein ähnliches Bild bot vor etwas mehr als einem Jahrzehnt ein Klimabericht der Vereinten Nationen – von zahlreichen Klimaforschern verfasst und gelesen –, in dem behauptet wurde, spätestens Anfang der 2030er Jahre müssten sämtliche Gletscher des Himalaya abgeschmolzen sein. Ein Rechenfehler, wie sich herausstellen sollte.

Kurios in beiden Fällen, dass die Forschungsresultate zum Thema ein überraschendes Auf und Ab zeigten. Im Falle des Spinats listete der San Francisco Chronicle vor Jahren einmal auf, wie lange der im Abstand von jeweils etwa einem Jahrzehnt erst für gesund, dann für ungesund, dann wieder für gesund und immer so weiter erklärt wurde. Zu den Himalaya-Gletschern lässt die Klimaforschung nach der Horror-Prognose und deren Rücknahme jetzt doch wieder verlauten, die Gletscher könnten bis zum Ende dieses Jahrhunderts überraschend schnell, genauer gesagt um 80 Prozent abschmelzen. Wobei noch völlig ungeklärt ist, was eine derzeit als Möglichkeit an die Wand gemalte Verlagerung des Polarwirbels mit seiner Kaltluft bewirken würde, die auch den indischen Subkontinent betreffen soll, wie jetzt von verschiedenen Medien berichtet wurde. Vielleicht gilt ja in all diesen Fällen, was angeblich Mark Twain – der tatsächliche Autor ist nicht bekannt – schon im 19. Jahrhundert wusste : „Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.“7

Der wahrscheinlich größte Teil kritikwürdiger wissenschaftlicher Studien und Forschungsresultate geht dabei weder auf Eitelkeit, noch auf Schlamperei zurück. Er ist – und damit sind wir beim dritten und vierten Phänomen – durch Interessenkonflikte und / oder politisches Kalkül bestimmt.

Im Auftrage des Tabaks

Es muss ja nicht gleich eine ganze Universität sein, die, wie die Zeppelin-Uni in Friedrichshafen von der Industrie gesponsort wird. Auch wenn die Tatsache, dass der Sponsor die Firma Audi ist und die Uni – passend, nicht wahr? – das Bundesverkehrsministerium berät, schon ein Stirnrunzeln wert sein sollte. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt?

Die Geschichte solcher Interessenkonflikte ist lang, vielleicht ebenso lang wie die der wissenschaftlichen Leistungen. Zu den Klassikern gehört das, was auch renommierteste Wissenschaftler in den 1950er bis 1970er Jahren im Auftrag der Tabakindustrie absonderten. Der Kampf zwischen den Forschern, die die Gefährlichkeit des Zigarettenrauchs erforscht hatten, und jenen, die – in der Regel mit Millionensummen – von der Industrie gesponsort wurden, ging mindestens zwei Jahrzehnte lang – wenn er denn je wirklich ein Ende fand. Die Vorgabe der großzügigen Industrie lautete dabei übrigens nicht, die Ungefährlichkeit des Tabakrauchs nachzuweisen, sondern Zweifel an jenen Studien zu säen, die die massive Krebsgefahr durch das Rauchen diagnostiziert hatten, und damit wissenschaftliche Forschungsresultate zu diskreditieren.

Von der Industrie bezahlte wissenschaftliche Forschung ist (nicht nur) in deutschen Universitäten heute so weit verbreitet, dass man versucht ist, dabei eher von der Regel als von Ausnahmen zu sprechen. Wobei die Universitäten in dieser Frage nicht sehr auskunftsfreudig sind, obwohl man das von öffentlich-rechtlichen Institutionen eigentlich erwarten sollte. In einem Artikel zum Thema schrieb „Die Zeit“ 2018, „Unternehmen bestellen Studien, engagieren Professoren und finanzieren ganze Institute, die in ihrem Sinne forschen. An den Universitäten ist die Wirtschaft zu einer verborgenen Macht herangewachsen.“ Und berichtete, bei 78 deutschen Universitäten um Zahlen zum Thema gebeten zu haben. Nur 27 übermittelten eine komplette Liste der „Drittmittelprojekte“, 28 nannten Ross und Reiter, sprich zumindest einige Auftrag- und Geldgeber. Und nein, es muss nicht alles falsch sein, was diese Art interessengeleiteter Forschung an Resultaten auswirft. Aber kein vernünftiger Mensch wird ihnen gegenüber nicht erst einmal ein gesundes Misstrauen an den Tag legen.

Auch die Politik mischt in diesem Spiel fleißig mit, wie die Corona-Pandemie gezeigt hat. Dass dabei erkleckliche Finanzmittel für die wissenschaftliche Suche nach einem Impfstoff ausgeschüttet wurde, mag dabei noch weithin auf Verständnis stoßen. Problematisch war in diesem Fall eher das Gegenteil, nämlich die Weigerung, mit Bundesmitteln absolut sinnvolle und – im Lichte eventueller zukünftiger Pandemien – notwendige wissenschaftliche Studien zur Entstehung und zum Verlauf der Krise anzustoßen. Eine Weigerung, die auch von zahlreichen Virologen und Epidemiologen immer wieder kritisiert wurde. Nicht einmal eine geforderte nachträgliche Aufarbeitung war in den Augen von Gesundheitsminister Lauterbach ihr Geld wert, wie wir wissen.

Nun ändern Fehler und Schlampereien, bewusste Beeinflussung und Interessenkonflikte nichts daran, dass wissenschaftliche Forschung in unseren Gesellschaften prinzipiell unverzichtbar und oft auch segensreich ist. Und ja, der dumpfe Wissenschaftszweifel, dem wir heute immer häufiger begegnen, ist, vor allem wenn ideologisch oder religiös motiviert, inakzeptabel. Eine intellektuelle und soziale Katastrophe. Dennoch widerspricht die eingangs zitierte, blinde Wissenschaftsgläubigkeit, die Mär von der Wahrheit der Mehrheit, allem, was wir heute über wissenschaftlichen Fortschritt wissen. Erstaunlich ist in der aktuellen Situation allenfalls, dass ausgerechnet Grüne und Umweltaktivisten, die ja in ihrer DNA ein Gen haben sollten, das sie gegenüber dem Wahrheits- und Fortschrittsglauben der Moderne und der untrennbar mit ihr verknüpften Wissenschaft kritisch macht, sich dann, wenn es ihnen in den Kram passt, plötzlich so wissenschaftsgläubig geben.

Paradigmen und Revolutionen

Auf Irrtümer und Mythen zum Thema Wissenschaft hingewiesen haben schon vor vielen Jahrzehnten Ludwik Fleck und der bereits zitierte Thomas Kuhn. Fleck, ein polnischer Mikrobiologe, Mediziner und Erkenntnistheoretiker befasste sich in den 1920er Jahren mit der (Er)Forschungsgeschichte der Syphilis. Er schilderte den Fortgang der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Plage, ausgehend von der astrologischen Theorie, deren Ursache in bestimmten Sternenkonstellationen zu suchen sei. Eine Theorie, die sich auf zufällig korrellierende Phänomene ganz unterschiedlicher Provenienz stützte: „Astrologie, die herrschende Wissenschaft und Religion, Schöpferin mystischer Gemütsverfassung, erzeugten jene sozialpsychische Stimmung, die für Jahrhunderte die Absonderung und konsequente Fixierung eines gemütsbetonten venerischen Charakters der neu determinierten Krankheitseinheit förderte.“ (Fleck, Enstehung …, S. 5)

Fleck entwickelt in seiner Betrachtung den Begriff der Denkkollektive und ihrer Denkstile, die jede wissenschaftliche Forschung prägen. „Es stand dem 16. Jahrhundert gar nicht frei, den mystisch-ethischen Syphilisbegriff für einen naturwissenschaftlichen, pythogenetischen einzutauschen. Es besteht eine stilgemäße Bindung aller – oder vieler – Begriffe einer Epoche …“ (S. 15). Die Entwicklung solcher Denkstile sieht er in zwei Phasen, der „klassischen“, in der alle Erscheinungen noch stimmig scheinen, und einer zweiten, in der sich „Ausnahmen“ melden. Dabei, so betont Fleck, tragen sowohl die echten Erkenntnisse wie auch die Irrtümer zur Entstehung wissenschaftlicher Begriffe bei und schließt, es gebe: „… wahrscheinlich keine vollständigen Irrtümer, so wenig wie vollständige Wahrheiten.“

Die für die heutige Diskussion interessantesten Passagen sind mit „Über die Beharrungstendenz der Meinungssysteme und die Harmonie der Täuschungen“ überschrieben. Fleck konstatiert dort: „Ist ein ausgebautes, geschlossenes Meinungssystem, das aus vielen Einzelheiten und Beziehungen besteht, einmal geformt, so beharrt es beständig gegenüber allem Widersprechendem … Was in das System nicht hineinpasst, bleibt ungesehen, oder … es wird verschwiegen … oder mittels großer Kraftanstrengung dem Systeme nicht widersprechend erklärt“ (S. 40), und ergänzt: „Zwischen den Auffassungen und ihren Beweisen besteht in der Wissensgeschichte kein formal-logisches Verhältnis: Die Beweise richten sich ebenso oft nach den Auffassungen, wie umgekehrt die Auffassungen nach den Beweisen.“ (ebda.)

(Nachtrag:) Der Dogmatismus der Denkungsart im Wissen
und im Studium der Philosophie ist nichts anderes als die
Meinung, dass das Wahre in einem Satze, der ein
festes Resultat ist oder auch der unmittelbar
gewusst wird, bestehe. (Georg Wilhelm Friedrich Hegel)

Was, summa summarum, bedeutet, dass Wissenschaft nicht neutral, keine reine Akkumulation von „richtigen“ Fakten, von „Wahrheiten“ über die „Wirklichkeit“ ist, sondern sich erstens in ständigem Fluss befindet und zweitens genauso sozial geprägt ist („Jede Erkenntnistheorie, die diese soziologische Bedingtheit allen Erkennens nicht … ins Kalkül stellt, ist Spielerei“, S. 59), wie unsere Alltagswahrnehmung und Alltagsbegriffe – eine Erkenntnis, die man übrigens implizit bereits in der Einleitung zu Hegels „Logik“ finden kann. Diese Prägung äußert sich in Form von – in der Zeit sehr stabilen – „Denkstilen“, die innerhalb von „Denkkollektiven“ vorherrschen, wobei die Mitglieder der wissenschaftlichen Kollektive, so Fleck, leider in der Regel viel zu lange an Fehlern festhalten.

Von Fleck, wie er selbst angibt, inspiriert, entwickelte Thomas Kuhn Anfang der 1960er Jahre seine Theorie von der Struktur wissenschaftlicher Revolutionen – die oben erwähnten „Großtaten“. Aus den Fleck’schen „Denkstilen“ werden bei ihm „Paradigmen“, deren Entstehung und Auflösung er schildert. Er geht von der Feststellung der Historizität wissenschaftlicher Erkenntnis aus – nein, das ist kein Relativismus –, wenn er schreibt: „Die Geschichte, wenn sie mehr als eine Quelle von Anekdoten und chronologischen Fakten sein soll, könnte zu einer entscheidenden Veränderung des Bildes der Wissenschaft führen, von dem wir aktuell überzeugt sind. Dieses Bild ist zuvor von Wissenschaftlern aus dem Studium vollendeter wissenschaftlicher Leistungen gezogen worden, so wie diese in den Klassikern und neuerdings in den Lehrbüchern, aus denen jede neue Generation ihr Handwerk lernt, aufgezeichnet wurden.” (Kuhn, The Structure ..., S. 2)8. Kuhn kritisiert in diesem Zusammenhang die unhistorischen Stereotype der Lehrbücher, denen er vorwirft, Wissen nur als stückweise („piecemeal”) Akkumulation von Fakten zu betrachten.

Nicht, dass er die Nützlichkeit dieser Akkumulation (der empirischen Forschung) negierte, die er „normal science“ nennt, aber er stellt unmissverständlich klar, dass wirklicher Wissensfortschritt den wissenschaftlichen Revolutionen zu verdanken ist, zu denen auch die Entdeckungen der Newtons, Galileis, Darwins, Einsteins etc. gehören. Mehr noch: „Die normale Wissenschaft … unterdrückt häufig fundamentale Neuerungen, weil diese unvermeidlich ihre Grundaussagen zersetzen.“(Ian Hacking, Einleitung zu Kuhn)9 Was Albert Einstein von der „normal science“ hielt, geht implizit aus Äußerungen über seine eigenen Entdeckungen hervor: „Ich glaube an die Intuition und an Inspirationen. Manchmal denke ich, dass ich recht habe, ich weiß aber nicht, ob das stimmt.“ und „Ich bin Künstler genug, um frei aus meiner Intuition schöpfen zu können. Die Phantasie ist wichtiger als Wissen. Wissen ist endlich, die Phantasie umgreift die Welt.”10

Wissenschaftsgeschichte nach Kuhn ähnelt viel mehr einer Wellenbewegung als einer stetigen Addition von eins plus eins plus eins. Wichtig dabei: Jede wissenschaftliche Großtat entsteht nicht im Konsens, sondern im mehr oder weniger scharfen Dissens mit und im Zweifel an der gerade vorherrschenden Lehre, dem dominierenden Paradigma – nicht aus der empirischen Bestätigung dieses Paradigmas, und sei die noch so oft erfolgt, sondern aus den im Laufe der Zeit in der Arbeit der „normalen“ Wissenschaft auftauchenden Anomalien. Die Revolution gegen das herrschende Paradigma ist nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel. Dissens statt Konsens ist das Lebenselixier wissenschaftlicher Forschung. Anders gesagt: Wissenschaft und wissenschaftlicher Fortschritt basieren auf Zweifel und Dissenz, nicht auf Gewissheit und Konsens. Nicht die (vermeintlich) richtigen Antworten zählen, sondern die richtigen, richtig gestellten Fragen.

Was dem aus einer solchen Revolution geborenen neuen Paradigma dabei anfänglich fehlt, ist die empirische Basis – man denke an Einstein, dessen Relativitätstheorie überhaupt erst Ende der 1920er Jahre empirische Bestätigung fand. Je mehr, so Kuhn, die „normale“, die empirische Wissenschaft Detailwissen zur Bestätigung eines neuen Paradigmas beiträgt, umso mehr verfestigt sich letzteres, wird dogmatisch und unsensibel für abweichende Forschungen; gleichzeitig entsteht aber mehr und mehr Evidenz, die mit diesem, nun nicht mehr so neuen Paradigma unvereinbar ist. Es folgen Revolution und neues Paradigma – um einmal verkürzt darzustellen, was Kuhn, so wie Fleck vor ihm, in lesenswerter Ausführlichkeit schrieben.

Folgt man Kuhn, so könnte die Floskel von der „Mehrheit der Wissenschaftler“ paradoxerweise kein Argument für, sondern eines gegen das gerade vertretene und mit ihr verteidigte Paradigma sein. Es könnte bedeuten, dass die Wellenbewegung zwischen Revolution und „normal science“ dabei oder kurz davor ist, den Punkt für einen erneuten Paradigmenwechsel zu erreichen, und dann wäre die schöne Einigkeit der Wissenschaftler vermutlich über kurz oder lang erst einmal wieder perdü. „Die große Mehrheit der Klimaforscher sagt dass …“, könnte ein Indiz dafür sein, dass das, was diese Mehrheit sagt, vielleicht sogar in absehbarer Zukunft durch ein neues Paradigma ersetzt werden könnte.

Der Zweifel ist ein unangenehmer Geisteszustand,
aber die Gewissheit ist lächerlich. (Voltaire)11

Wissenschaftsgläubigkeit, wie sie in Formeln vom Typ „Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass …“ zum Ausdruck kommt, basiert bestenfalls auf Korrellationen, die in wissenschaftlichen Studien auf der Basis apriori formulierter Hypothesen und mit Hilfe gesellschaftlich geprägter Begrifflichkeiten formuliert werden. Wer glaubt, solche Wissenschaft zeige „sichere“ Kausalitäten auf, ein Glaube, mit dem wir uns nur allzu gerne unserer selbst vergewissern, zeichnet ein falsches Bild: das Bild einer linearen Beziehung zwischen Wahrheit und Wissenschaft. Fleck ist in seiner Kritik unmissverständlich: „Die Kausalitätsbeziehung … galt lange Zeit für rein verstandesmäßig und war doch ein Überbleibsel der dämonologischen Kollektivvorstellung …“ (S. 68) - heute würde man wohl von Verschwörungstheorerikern und ihrer Suche nach dem oder den „Schuldigen“ sprechen. Klingt paradox? Verschwörungstheorie nicht nur bei den Schwurblern, sondern auch bei Wissenschaftsgläubigen?

Wissenschafts- oder, wie die Medien sie praktizieren, Expertengläubigkeit, ist eine in sich widersprüchliche Attitüde und genauso wenig wahrheitsbewehrt wie Wissenchaftsfeindlichkeit. Wissenschaft ist ein „offener“ Prozess und keine „sichere“ Währung. Wer den Zweifel an ihren Erkenntnissen aufgibt, wer glaubt, in der Wissenschaft gebe es nur „richtig“ und „falsch“ – so wie in der Gesellschaft nur „gut“ und „böse“ –, wer also den Dissens fürchtet und sich lieber am heimeligen Konsens festhält, der gibt auch die Wissenschaft auf, macht sie zur Religion.

Anmerkungen

Die originalsprachlichen Zitate wurden von mir übersetzt.

1) „The fundamental cause of the trouble is that in the modern world the stupid are cocksure while the intelligent are full of doubt.“

2) „Newton’s dynamics was widely rejected“

3) „I by no means expect to convince experienced naturalists whose minds are stocked with a multitude of facts all viewed, during a long course of years, from a point of view directly opposite to mine. . . . (B)ut I look with confidence to the future.“

4) „…the suggestion seemed entirely strange to most of his contemporaries“

5) „Very prominent scientists attacked Darwin’s theory“

6) „The whole thing arose from the mistranslation of a German physiology textbook by a Professor D. P. Hanig, who claimed that his very anecdotal experiments showed that parts of the tongue were slightly more or slightly less sensitive to the four basic tastes. Very slightly as it has turned out when the experiments are done more carefully …. The Hanig work was published in 1901 and the translation, which considerably overstated the findings and canonized the myth, was by the famed Harvard psychologist Edward G. Boring …”

7) “Prediction is very difficult, especially about the future.”

8) „History, if viewed as a repository for more than anecdote or chronology, could produce a decisive transformation in the image of science by which we are now possessed. That image has previously been drawn, even by scientists themselves, mainly from the study of finished scientific achievements as these are recorded in the classics and, more recently, in the textbooks from which each new scientific generation learns to practice its trade”.

9) „Normal science … often suppresses fundamental novelties because they are necessarily subversive of its basic commitments.”

10) „I believe in intuitions and inspirations. I sometimes feel that I am right. I do not know that I am”, und “ I am enough of the artist to draw freely upon my imagination. Imagination is more important than knowledge. Knowledge is limited. Imagination encircles the world.”

11) „Le doute est un état mental désagréable, mais la certitude est ridicule.”

 

Literatur zum Thema

Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, London 1962

Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Frankfurt am Main 1980

Victor Klemperer, LTI – Notizbuch eines Philologen, Ditzingen 2018

 

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