Wahrheit und Gesellschaft

Medien und die Digitalisierung der Wirklichkeit

Eine Rezension von Eckhard Supp

Vielleicht sollte man sie gar nicht beachten, auch wenn sie sich gerne lautstark geben. Die Rede ist von jenen „Kritikern“ – wenn diese Bezeichnung nicht schon zu euphemistisch ist – der Medien und des Journalismus, die diese als Verbreiter von „Fake News“, als „Lügenpresse“ diffamieren: in der Regel wohl eher einfach gestrickte Menschen, die außer „gut“ und „böse“, assoziiert mit „wir“ und „die anderen“ im Leben nur wenig andere Denknuancen kennengelernt haben.

Sie mit Missachtung zu strafen, scheint so etwas wie die Strategie der Adressaten der Beschimpfungen zu sein. Jedenfalls fällt auf, dass das, was an substanzieller Auseinandersetzung mit den „Lügenpresse“-Schreiern zu lesen ist, häufig nicht von den Angegriffenen selbst stammt, sondern von Medienwissenschaftlern, Soziologen, die wenig oder gar nicht in die mediale Praxis involviert sind. Die Gründe für diese „Zurückhaltung“ der Praktiker wären ein interessantes Thema für weitergehende wissenschaftliche Studien, wobei man nur hoffen kann, dass am Ende nicht journalistische Überheblichkeit oder die Unfähigkeit, selbst weiter als „gut“ und „böse“ denken zu können, daran schuld sind.

Kaum zu leugnen ist ja die Tatsache, dass die Medien das Ihre zu den zitierten Anfeindungen beigetragen haben, und man versteht zum Beispiel nicht recht, warum sich Journalisten einerseits beklagen, dass sie von ihren Verlagen an die immer kürzere Budgetleine genommen werden, andererseits aber allergisch reagieren, wenn man die – dadurch wohl zwangsläufig beeinträchtigte – Qualität ihrer Arbeit thematisiert.

„Das Ihre“, das waren in der jüngeren Geschichte etwa Karrieren, wie die des preisgekrönten „Märchenerzählers“ Claas Relotius beim Spiegel. Oder auch die vom einen oder anderen TV-Sender gepflegte, „billige“ Praxis, zufällig auf der Straße vorbeilaufende Menschen vor laufender News-Kamera nach ihrer Meinung zu Themen zu befragen, für die sie mit einiger Sicherheit nach nicht die Spur einer irgendwie gearteten Kompetenz besitzen – ein Beispiel: „Glauben Sie, dass 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr ausreichen?“ Auch die Corona-Berichterstattung müsste in diesem Zusammenhang erwähnt werden, aber dazu später. Wenig wirklicher Journalismus war und ist das, eher mediengestützte Kaffeesatzleserei, die nicht einmal Unterhaltungswert hat, von Nachrichtenwert ganz zu schweigen.

Gut also, möchte man meinen, dass ein wissenschaftlicher Verlag wie Springer VS in Wiesbaden, der schon in den letzten zwei Jahrzehnten entsprechende Werke etwa von Markus Appel (2020) und Siegfried Weischenberg (2008, 2018) auf den Markt gebracht hat, sich des Themas diesen Sommer mit gleich drei Neuerscheinungen angenommen hat. Drei Bücher zum Thema Medien, veröffentlicht im selben Verlag? Nun, Fakt ist, dass die drei unterschiedlicher nicht sein könnten, aber auch, dass ihre Lektüre nicht immer ohne Enttäuschungen bleibt und eigentlich nur die Lektüre einer der drei Neuerscheinungen lohnend scheint.

Narrative Narration

Kommen wir zum ersten der drei Werke. „Die Wahrheit der Medien – Wie wir Orientierung zwischen Vielfalt und Fake finden“ lautet der Titel, sein Autor, Holger Friedrichs, ist PR-Berater für Unternehmen der Finanz- und Immobilienwirtschaft, also weder ausgewiesener Medienforscher, noch Medienschaffender, wie es im PR-Sprech heißt. Was erst einmal nichts bedeuten muss, rede ich mir aufkeimende Vorurteile aus dem Sinn. Und mache mich an die Lektüre des 80-Seiten-Bändchens, das laut Inhaltsverzeichnis von Narrativen, von der Wahrheit, von Emotionen und schließlich von Vielfalt und Fakes zu erzählen verspricht.

Ziel und Sinn des Buches sind es, so der Autor, die Medien gegen die eingangs zitierten Vorwürfe zu verteidigen, Partei für sie zu ergreifen, und dabei gleichzeitig „den Begriff der Wahrheit“ zu erläutern, wie Friedrichs – wohl, um seinen Worten Gewicht zu verleihen – in der dritten Person über sich selbst angibt (S. X). Den Begriff der Wahrheit fassen? Ein hehres Unterfangen, an dem vermutlich schon so mancher Philosoph gescheitert ist, und das Friedrichs denn auch im Verlauf des Buches weise auf die Frage reduziert „Gibt es … überhaupt eine ‚richtige‘ Berichterstattung“ (S. 26) alias „Kann Berichterstattung überhaupt objektiv sein?“ (S. IX).

Dabei gehen ihm leider Begriffe, Behauptungen und Thesen derart durcheinander, dass man sich am Ende fragen muss, ob die Medien mit dieser Schrift wirklich verteidigt werden. Das Durcheinander fängt schon mit den elementarsten Definitionen an. Das „objektiv“, alternativ die „Objektivität“ der zitierten Zielsetzung ist eines der viel genutzten Buzzwords des Buches – für Friedrichs Gegenstand einer „unerschütterliche(n) Jagd nach Objektivität, nach der Wahrheit“ .

Leider liefert er keine bzw. nur eine fast sträflich reduzierte Definition für diese „Objektivität“. Er behauptet, der Begriff sei vom „Duden sinngemäß als frei von persönlichen Gefühlen“ (S. 7) definiert, unterschlägt aber dabei, dass die Begriffsfassung des Duden tatsächlich deutlich umfangreicher ist. „1) unabhängig von einem Subjekt und seinem Bewusstsein existierend; tatsächlich“ und „2) nicht von Gefühlen, Vorurteilen bestimmt; sachlich, unvoreingenommen, unparteiisch“, weiss der deutsche Nachschlage-Klassiker; der Begriff „persönlich“ als Attribut der Gefühle kommt in seiner Definition überhaupt nicht vor.

Tautologie, ist man versucht einzuwenden, denn natürlich kann niemand, auch das Medium, der Journalist mit den höchsten Ansprüchen an „Objektivität“ seine „persönlichen Gefühle“ nicht leugnen, ihnen allenfalls Rechnung tragen. „Unabhängig von einem Subjekt“, „existierend“, „sachlich“, „unvoreingenommen“ wären hier mit Sicherheit die adäquateren Varianten der Duden-Definition gewesen.

Nur ein Zufall, ein Versehen? Wohl kaum. Erlaubt es diese verkürzte Defintion Friedrichs doch, zu seiner Schlussfolgerungen zu gelangen: „Tatsächlich wird damit auch deutlich, dass ein objektiver Wahrheitsbegriff (für die Medien, E.S.) nicht möglich ist. (S. 42) und „Das Einfordern von Objektivität ist eine Forderung, die nicht erfüllbar ist (S. 43).

Dass er damit in Widerspruch zu seinem eigenen Anspruch auf philosophische Wahrheitssuche gerät („Hier kommen wir wieder zur Philosophie: Sie hatte es sich über circa zwei Jahrtausende – wie bereits beschrieben – zur Aufgabe gemacht, das Wesen der Wahrheit objektiv und neutral zu erfassen (S. 41).“) – sei nur am Rande erwähnt. Wichtiger scheint mir die Tatsache, dass ihm diese Definition den platten Relativismus erlaubt, auf den wir noch zu sprechen kommen.

Definitorisches Chaos herrscht auch in der Frage, ob guter Journalismus Narrative erlaubt und verträgt. Nur mit Mühe hält Friedrichs die erzählerische Darstellungsart des „Storytellings“, die selbst noch nichts über wahr oder unwahr aussagt, und den „sinnstiftenden“ (Wikipedia), also inhaltlichen und vor allem intentionalen Charakter des „Narrativs“ auseinander – eine „klare Abgrenzung … (ist für ihn, E.S.) nicht möglich“. Wenig erstaunlich deshalb, dass er auch den Unterschied zwischen „Narrativ“ und „Narration“ (das erwähnte „Storytelling“) nicht sieht und schreibt, „Hier zeigt sich eine klassische hierarchische Unterteilung in den ‚guten‘ Informationsjournalismus und ein dem untergeordnetes ‚böses‘ Narrativ, das eigentlich Prosa sei. Narration wird damit in ihrer Bedeutung jedoch heruntergespielt ...“ (S. 16).

Garniert wird der Begriffswirrwarr durch Plattitüden, die im Fußballfernsehen allenfalls noch das Phrasenschwein füllen könnten – „… es liegt nun einmal in der Natur des Menschen, nach einfachen, plausiblen und kohärenten Erklärungen zu suchen …“ (S. 8) – sowie durch undokumentierte und unhinterfragte Behauptungen vom Stile „… der Großteil von uns kauft keine Zeitung, um zu erfahren, was auf der ganzen Welt passiert, sondern in seiner. Der Leser möchte gute Artikel lesen, Inhalte mit Botschaften, die seine Mentalität widerspiegeln.“ (S. 27). Auch die Behauptung, „… Journalisten sind unabhängig, aber natürlich Teil unserer Kultur …“ (S. 29) gehört sowohl ins Reich der Plattitüden, als auch in das der unbewiesenen Behauptungen.

Das also ist des Pudels Kern: „Können Journalisten also neutral und objektiv schreiben? Nicht einmal, wenn sie wollten …Das Einfordern von Objektivität ist eine Forderung, die nicht erfüllbar ist“ (S. 43), postuliert Friedrichs, und wiederholt das wenig später: „Neutralität oder Objektivität gibt es nicht im Journalismus.“ (S. 44) Einmal abgesehen davon, dass man Neutralität und Objektivität nicht verwechseln sollte, wird Friedrichs Räsonnement gänzlich durchsichtig. Sein Lieblingsbeispiel für intrinsische Voreingenommenheit alias emotionale Befangenheit der Journalisten, das er wiederholt anführt, zeigt das deutlich: Es stammt nicht zufällig aus seiner „eigenen“ (Immobilien-)Branche.

Melbourne, Australien, 1979 (Fotos: E. Supp)

„Als Experte der Immobilien- und Finanzkommunikation“, erzählt er, „verfolge ich seit über 20 Jahren die tägliche Berichterstattung. Seit etwas mehr als zehn Jahren lässt sich beobachten, dass Immobilien zunehmend ein wichtiges Thema in den Medien ge¬worden sind. Und auch hier finden zahlreiche Narrative Anwendung, zum Beispiel das Narrativ „David gegen Goliath“: Immobilienunternehmen beschweren sich in diesem Zusammenhang häufig über Berichte zu Einzelschicksalen von Mietern, die möglicherweise davon bedroht sind, ihre Wohnung zu verlieren, zum Beispiel durch Kündigung. So sieht man immer wieder Bilder von verzweifelten Mietern – weil ihr Mietvertrag anscheinend überraschend gekündigt wurde …Recherchiert man nach, ergibt sich teilweise ein ganz anderes Bild.“ (S. 5 f., vgl. auch S. 55)

Lassen wir die Frage beiseite, ob die inkriminierten Journalisten wirklich so schlecht recherchiert haben: Tatsache ist, dass in den letzten Jahren neben Berichten über Miethaie, wie sie dem unterstellten „emotionalen Narrativ“ der Journalisten entsprechen sollen, auch zahlreiche Zeitungsartikel und TV-Berichte über Mietnomaden zu sehen und zu lesen waren. Merkwürdig, dass von diesen Berichten, in denen ja die Mieter zu Schurken mutieren, die eigene der Immobilienbesitzern zu ihren Opfern wurden, bei Friedrichs nichts zu lesen ist? Nicht wirklich.

Ein klassischer Interessenkonflikt, würde man jetzt bei einer wirklich wissenschaftlichen Publikation sagen – Friedrichs dagegen könnte argumentieren, dass er, wenn schon die ganze (Medien)Welt befangen ist, doch wohl selbst ebenfalls „pro domo“ schreiben dürfe. Klassischer, aber auch durchsichtiger Relativismus: Da es keine „Wahrheit“ gibt, darf jeder seine eigene „story“ schreiben, ganz gleich, ob er dabei Fakten oder Fakes verwurstet. „Es gibt kein wahres Medium“ (S. 22), heißt das bei Friedrichs lakonisch.

Eine Verteidigungsschrift für die Medien, wie es der Autor postuliert, kann ich leider in dem Bändchen nicht entdecken – genauso wenig, wie ich eine Einlösung des Versprechens aus dem Untertitel („Wie wir Orientierung zwischen Vielfalt und Fake finden“) aufspüren konnte. Warum dann ein Wissenschaftsverlag, der mit den Werken von Siegfried Weischenberg oder Markus Appel durchaus anspruchsvolle Titel zum Thema im Programm hat, ein solches, mit Verlaub gesagt, Pamphlet veröffentlicht, erschließt sich mir nicht.

Philosophischer Overkill

Dieses Fazit bringt uns schnurstracks zur zweiten der erwähnten Neuerscheinungen, der man vieles vorwerfen kann – nur nicht mangelnde (philosophisch-soziologische) wissenschaftliche Ansprüche. „Die mediale Konstruktion der Wirklichkeit – Eine Theorie der Mediatisierung und Datafizierung“ heißt das Werk von Nick Couldry und Andreas Hepp, ihres Zeichens Soziologen bzw. Medienwissenschaftler.

Schon die Übersetzung des Titels der bereits 2016 erschienenen englischen Ausgabe – merkwürdige Verzögerung, wo doch einer der Autoren Deutscher ist und in Bremen lehrt – stellt mehr Fragen, als sie Antworten gibt. „The Mediated Construction of Reality“, so der englische Titel, spielt für mein Gefühl im Begriff „(to) mediate(d)“ mit der Ambiguität aus den deutschen Bedeutungen „vermitteln“, „hervorbringen“ einerseits und, im Fall des Partizips, „die Medien betreffend, von Medien erzeugt“ andererseits. Das lässt die Medien als Akteure einer Konstruktion (oder Transformation) der Realität erscheinen, während in der deutschen „mediale(n) Konstruktution“ das „medial“ nur Adjektivattribut (eines von mehreren möglichen?) einer Realitätskonstruktion ist, deren Autoren nicht notwendigerweise die Medien selbst sein müssen. Ob’s daran liegt, dass das Buch „mit Hilfe von künstlicher Intellligenz“ übersetzt wurde?

Kurz gesagt, geht es Couldry und Hepp darum, zu beschreiben, dass und wie die Medien die soziale Realität der Menschen verändern – „umfassend darüber nachzudenken, wie sich der Charakter des sozialen Lebens und der Gesellschaft mit den sozialen Medien verändert …“ (S. V). Veränderungen machen die Autoren dabei in den Dimensionen des Raums, der Zeit und der Daten aus, wobei die Systematik dieser Auflistung von Raum und Zeit einerseits, Daten andererseits zumindest erklärungsbedürftig ist. Die Konsequenzen wiederum für das handelnde Individuum und seine Handlungsfähigkeit („agency“, ein laut studlib.de „vages und vielseitiges Konstrukt“ … das „in vielseitiger Weise aufgefasst“ wird) werden für das Selbst und seine Ressourcen, für Kollektivitäten und für die institutionalisierte Ordnung (Organisationen, Politik etc.) diskutiert.

Bevor die Autoren zu ihrem Gegenstand kommen – für Kritiker geschieht das frühestens auf S. 128 von insgesamt knapp 300 Seiten (vgl. Rose Deller auf blogs.lse.ac.uk: “This is where the substantial contribution of the book begins and the reader really gets rewarded for their patience …”) – ist jedoch erst einmal ausgiebiges (philosophisches) Definieren angesagt. Ob die Geduld dann wirklich belohnt wird, wie Deller meint, sei dahingestellt.

Verwandlung des Menschen in Daten und Nummern?

Grundlage ihrer Analyse, so Couldry / Hepp, soll eine „materialistische Phänomenologie“ sein, deren genaue Beschreibung allerdings obskur wirkt – einmal davon abgesehen davon, dass diese Begriffskombination auch mithilfe eine ausgiebigen Google-Suche nirgends sonst in der Literatur zu finden ist. Obskur vor allem, weil die von Husserl in der Auseinandersetzung mit der Psychologie entwickelte Phänomenologie ja ursprünglich nicht als „materialistische“ gestartet war, sondern gerade über die Thematisierung der Spaltung zwischen Idealismus und Materialismus (vgl. Werner Eberwein, Was ist Phänomenologie? auf www.werner-eberwein.de).

Dabei ist nicht wirklich ersichtlich, warum eine Erkenntnistheorie, die vom wahrnehmenden Subjekt ausgeht, hilfreich sein soll in der Analyse des Einflusses von Medien auf die Gesellschaft, auf die Kollektivität. Das geht nur, man ahnt es, wenn „klassische Phänomenlogie“ neu definiert wird. „Eine materialistische Phänomenologie kann sich der Herausforderung nicht entziehen, darüber nachzudenken, wie das Erleben von sozialem Raum heutzutage … transformiert wird. Dies geschieht auf eine so grundlegende Weise, wie sie von der klassischen Phänomenologie nie vorgesehen war.“ (S. 125)

Mit Grund wohl, könnte man jetzt einwenden, wobei sich die Frage stellt, warum Couldry / Hepp sich überhaupt so rührend um die Phänomenologie kümmern, wenn sie nur in radikal veränderter Gestalt hilfreich sein soll. Betonung auf soll! Weshalb wohl auch Rose Deller in ihrer Kritik zum Schluss kommt: „And yet, all this innovation is in danger of being obscured as the authors somewhat overindulge themselves in theoretical discussion that does not necessarily contribute to the development of the overall argument.”

Wie die Phänomenologie zu ihrem Materialismus kommt, erklären die Autoren so: „Wenn wir annehmen, dass die soziale Welt in Teilen auf Interpretations- und Kommunikationsprozessen beruht, wie die Phänomenologie es betont, müssen wir … die materiellen Infrastrukturen …. einer genauen Betrachtung unterziehen.“(S. 8) Später heißt es: „Die Grundidee der materialistischen Phänomenologie, dass die soziale Welt auf den materiellen Prozessen beruht, durch die die Menschen sie konstruieren“ (S. 34) oder „Eine materialistische Phänomenologie erfordert jedoch eine Anerkennung …. der Rolle, die Kommunikationstechnologienn bei der Konstruktion von Ort, Lokalität und Skala spielen.“ (S. 110)

Nur auf materiellen Prozessen soll die soziale Welt beruhen? Auf sonst gar nichts? Nicht auch – zumindest doch ein wenig, bitte – auf Arbeit, auf Macht, auf Religionen, auf Emotionen? Nicht auf intersubjektiven Strukturen, auf Familie und Verwandschaft, auf Kriegen, Sprache und Zeichen?

Um das in ihrem Sinn postulieren zu können, gehen die Autoren einen Schritt weiter und bemühen den Sozialkonstruktivismus, ungeachtet der Tatsache, dass der mit seiner Ansage, dass soziale Ordnungen kollektiv produziert werden, doch zumindest ein wenig im Widerspruch zur Phänomenologie steht, einer Erkenntnistheorie, die von der Wahrnehmung des Subjets ausgeht. Den Widerspruch aufzulösen, versuchen die Autoren durch die Behauptung, der Sozialkonstruktivismus bestehe „darauf, dass das Soziale materiell“ sei (S. 29). Immer nach dem Motto, was nicht passend ist, wird passend gemacht. Oder, anders gesagt, „… um die Medien in einem phänomenologischen Ansatz wahrhaftig zu erfassen, … gilt es nicht nur, eine vollständig materialistische Phänomenologie zu entwickeln …“ (S. 272).

Einige Punkte in diesen „philosophischen“ Übungen erschließen sich auch bei mehrmaligem Lesen nicht wirklich. Jedenfalls kann ich mir schwer vorstellen, dass die Definition der Datafizierung als „Umwandlung von Dingen, Menschen, ja des gesamten Lebens in digitale Daten“ (S. 6) wirklich wörtlich zu lesen sei. Gleiches gilt für die ebenfalls zitierte Behauptung, „dass die mit fortschreitender Digitalisierung einhergehende enorme Zunahme von Kommunikationsmöglichkeiten und -pflichten uns dazu drängt, andere Menschen gewissermaßen in Maschinen zu verwandeln“ (S. 283).Jedenfalls komme ich mir auch nach langem Gebrauch von digitalen Medien und Daten immer noch wie ein Mensch aus Fleisch und Blut vor. Und auch die von den Autoren zitierte Feststellung: „Menschen ordnen Dinge in Kategorien ein, von denen sie dann lernen, wie sie sich verhalten sollen.“, kann ich das aus meinem eigenen Leben nicht nachvollziehen, sofern damit mehr gemeint sein soll, als die Tatsache, dass wir als Individuen immer nach Maßgabe sozialer Modelle denken und handeln, wie es die Neurowissenschaftlerin Lisa Feldmann Barrett iin ihrem „How Emotions are Made“ jüngst gezeigt hat.

Wer irgendwann hofft, er habe die Definiererei hinter sich, und das Werk käme endlich zur Sache, der könnte enttäuscht werden. Nach den Versuchen zur Phänomenologie und zum Sozialkonstruktivismus wird ganze 30 Seiten (S. 75 ff.) lang weiter geübt: „Figurationen“ und „Figurationen von Figurationen“ sind das argumentative Geschütz, das Couldry / Hepp jetzt auffahren. Den Begriff der „Figurationen“ entlehnen sie bei dem Soziologen Norbert Elias, der damit die Interdependenzbeziehungen von Individuen meint, mit den „Figurationen von Figurationen“ dagegen „das Gesamtgeflecht der ‚figurationalen Ordnung‘ einer Gesellschaft (S. VII, 78). Wobei sich fragt, warum er dann nicht einfach von Beziehungen und Gesellschaften, ihren Funktionsweisen und Strukturen spricht. Aber das wäre ein anderes Thema.

Insgesamt kommt mir das Buch von Couldry / Hepp über weite Strecken wie eine lange Übung in brotlosem Definieren vor, und ich gebe zu, dass ich noch immer auf die Kinderstimme warte, die dem Kaiser zuruft: „Aber er hat ja gar nichts an!“

Facts und Fakes

Bleibt der dritte Streich, das letzte Werk der aktuellen Neuerscheinungen, „Fakten statt Fakes – Wie Medien und Organisationen wieder glaubwürdig werden“, von Julia Frohne und Alexander Güttler, ihres Zeichens Professorin am Institut für Journalismus und PR der Westfälischen Hochschule beziehungsweise Diplom-Journalist, Agenturinhaber und Honorarprofessor für Journalismus und PR an derselben Hochschule.

Statt abstrakter Überlegungen zum Unterschied zwischen „Mediatisierung“ und „tiefgreifender Mediatisierung“, findet man in „Fakten statt Fakes“ jede Menge Konkretes, etwa die Betrachtungen zur Veränderung der journalistischen Gatekeeper-Rolle („So schien der Journalismus das Aushängeschild ‚Meinungsmacher‘ über ein halbes Jahrhundert sicher für sich gepachtet zu haben. Gatekeeper, Agenda-Setting …“, S. 181). Oder den wichtigen Hinweis, dass die mediale Entwicklung mitnichten immer in eine Richtung, sondern auch historisch „rückwarts“ verlaufen kann (S. 85), oder wieder die Analyse, dass so manches, was wir heute vorschnell als Attribut der modernen Medienwelt bezeichnen, in seinen Ursprüngen schon deutlich früher zu verorten ist (S. 80 f.).

Zu den Stärken des Buches gehört die Bestandsaufnahme. „Um das Vertrauen in den Journalismus ist es nicht gut bestellt“ (s. VI), heißt es gleich zu Beginn, und das hat sicher unter anderem etwas damit zu tun, dass, so entnehmen die Autoren entsprechenden Studien, 62 % der Medienpublikationen zu politischen Themen „durch das Informationsmaterial der Politik angestoßen“ (S. 30) werden, nicht durch eigene Neugier, wobei 80 % sogar nur eine einzige Quelle benutzen, die wiederum in der Hälfte der Fälle nicht genannt wird. Die Autoren kommentieren. „Wie politiknah deutsche Medien faktisch agieren, zeigt das Corona-Beispiel … Aufgabe der Medien wäre es in einer solchen Situation doch eigentlich, Erklärungen einzufordern … und Gegenpositionen Raum zu geben.“ Was wohl soviel heißt, dass genau dies nicht stattfand.

Es ist wohl kein Zufall, dass selbstkritische Töne der Medien in dieser Krise aus der Schweiz oder aus Dänemark kamen, selten aus Deutschland. So wird der CEO der Schweizer Ringier-Gruppe, Marc Walder, im Dezember 2021 zitiert: "Wir haben in allen Ländern, wo wir tätig sind …, auf meine Initiative hin gesagt, wir wollen die Regierung unterstützen durch unsere mediale Berichterstattung, dass wir alle gut durch die Krise kommen." In Deutschland suggerierte wenigstens ZDF-Anchor Claus Kleber ein wenig Selbstkritik, als er im darauffolgenden Februar erklärte: „Wir haben praktisch die Rolle eines Pressesprechers oder Ministers eingenommen, der seiner Bevölkerung erklärt, warum diese Maßnahmen jetzt sein müssen. Das ist einfach nicht unser Job." Er blieb ein einsamer Rufer.

Die Kritik der Autoren ist einerseits grundsätzlich: „Teilweise gehen die Medien sogar noch über diese passive Rolle hinaus. So schreibt Philipp Oehmke im Spiegel online, die Zeit der Neutralität sei vorbei und schlägt damit quasi eine Dienstverpflichtung von Journalisten … im Kampf für die gute Sache vor.“ (S. 32) Dennoch erwecken weite Passagen des Buches auf der anderen Seite den Eindruck, es ginge in der Betrachtung der Kommunikationskrisen (S. 95 f.) hauptsächlich um Schwurbler und Verschwörungstheoretiker im Internet, wo „wahr ist, was häufig angeklickt wird oder viele Likes erhält“ (S. VI) – unter Schonung der Leitmedien. Ein Eindruck, den man hätte vermeiden können.

An einigen Stellen kommt mir der Text, das sei hier nicht verschwiegen, deutlich zu detailverliebt vor. So erschließt sich mir die Relevanz einer pingeligen Einteilung von Influencern nach der Anzahl ihrer Follower – 1.000 bis 10.000, 10.000 bis 50.000, 50.000 – 500.000, und immer so weiter (S. 161) überhaupt nicht. Zumal ja vorher (S. 147 f.) durchaus eingeräumt wurde, dass es bei der Bewertung nicht nur auf die reine Zahl der Follower ankommen darf.

Immerhin bennenen die Autoren, anders als die der beiden anderen Werke, als eine der Ursachen für die Probleme, die Medien und ihre Journalisten sich selbst geschaffen haben, die ökonomische Krise (S. 65 f.) des Sektors und unterbreiten, wiederum anders als die genannten Kollegen, konkrete Vorschläge, wie bestimmte Missstände behoben werden können – etwa durch den Gesetzgeber (S. 89 f.) oder durch das Entwickeln einer angepassten Medienethik (S. 88 f.). Ob es dabei reicht, darauf zu insistieren, „freie, vom Staat unabhängige Medien (schüfen) Transparenz und Öffentlichkeit als vierte Gewalt in der Demokratie“ (S. 27) sei einmal dahingestellt.

Das alles mag diskussionswürdig sein, aber es ist auf jeden Fall von größerer praktischer Relevanz als Diskussionen darüber, ob wir es mit einer „Mediatisierung“ oder einer „tiefgreifenden Mediatisierung“ zu tun haben. Summa summarum bin ich nach der Lektüre der drei so unterschiedlichen Medienbetrachtungen doch froh, dass wenigstens eines der drei Werke die Mühe der Lektüre gelohnt hat.

Bibliographische Angaben

Couldry, N. & Hepp, A., Die mediale Konstruktion der Wirklichkeit – Eine Theorie der Mediatisierung und Datafizierung, Wiesbaden 2023
Friedrichs, H., Die Wahrheit der Medien – Wie wir Orientierung zwischen Vielfalt und Fake finden, Wiesbaden 2023
Frohne, j. & Güttler, A., Fakten statt Fakes – Wie Medien und Organisationen wieder glaubwürdig werden, Wiesbaden 2023

Weitere Literatur zum Thema

Appel, M., Die Psychologie des Postfaktischen, Berlin 2020
Pörksen, B., Die große Gereiztheit, München 2018
Pörksen, B., Loosen, W. & Scholl, A., Paradoxien des Journalismus, Wiesbaden 2008
Weischenberg, S., Medienkrise und Medienkrieg, Wiesbaden 2018
Weischenberg, S., Max Weber und die Entzauberung der Medienwelt, Wiesbaden 2012

 

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