Phänomenologisches für die Ethnologie
von Eckhard Supp
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letzte korrigierte Version vom 28.6.2025
Inhaltsverzeichnis
III – Zurück zu den Sachen: mit Methode
0 – Einleitung
Er hatte wohl nicht gänzlich Unrecht, Theodor W. Adorno (1903-1969), Soziologe und Philosoph des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Mitbegründer der so genannten Frankfurter Schule mit ihrer Kritischen Theorie und bestimmt kein intellektuelles Leichtgewicht, als er die phänomenologische Theorie des Philosophen Edmund Husserl (1859-1938) als „dickichthaft verschlungen, wohl auch mehrdeutig“[1] bezeichnete und hinzufügte: „Darüber hinaus widerspricht in Husserls Deduktion sein tatsächliches Verfahren dem phänomenologischen Programm.“[2] Ein Urteil, das man auch mit „schwer verständlich“ und „in sich widersprüchlich“ übersetzen könnte.[3]
Auch der Züricher Philosoph Helmut Holzhey hielt es für angebracht, sich über den Sprachgebrauch Husserls, auf den wir noch an anderer Stelle zurückkommen werden, Gedanken zu machen[4]; sein Wuppertaler Kollege Klaus Held (1936-2023) erklärte in der von ihm herausgegebenen Auswahl Husserlscher Texte höflich und diplomatisch: „Die trockene Diktion des Kathederphilosophen Husserl bot sich … für eine öffentliche Debatte nicht … an“[5], und die Psychologen Max Herzog und Carl Friedrich Graumann (1923-2007) benennen ihrerseits Schwierigkeiten mit dem Husserlschen Sprachgebrauch.[6]
Umso mehr kann es erstaunen, mit welcher Leichtfüßigigkeit eine Reihe Ethnologen, zumal solche aus dem angelsächsischen Sprachraum, sich in den doch recht schwurblig wirkenden Texten zu bewegen scheinen, deren Maxime und Methoden sie aus der Philosophie in ihre eigene Wissenschaft zu transportieren suchen. Dass da einige Fallstricke zum Stolpern einladen, kann sich jeder vorstellen, der mit Sprache zu tun hat. Nur ein Beispiel: Der Deutsche Husserl unterscheidet recht klar zwischen Erlebnis und Erfahrung mit ihren jeweiligen Konnotationen der (unmittelbaren, sinnlichen) Wahrnehmung und der (reflektierenden, begrifflichen) Verarbeitung; eine Unterscheidung, die das englische „experience“ kaum hergibt, die man aber beispielsweise durch die Zusätze „lived“ und „reflected experience“ hätte deutlich machen können.[7]
Die fehlende Klarheit diesbezüglich fängt bei einigen Autoren bereits in der Definition dessen an, was sie unter Phänomenologie verstehen. Die amerikanischen Anthropologen und Philosophen Jarrett Zigon und Jason Throop etwa definieren: „Die Phänomenologie, wie Husserl zu sagen pflegte … ist eine Philosophie, die die wesentlichen Strukturen von „experience“ enthüllt ...”[8] und präzisieren, dass das Konzept der „experience“ im Zentrum aller Formen oder Varianten der phänomenologischen Philosophie steht.[9] Der Hamburger, häufig auf englisch publizierende Ethnologe Michael Schnegg seinerseits komprimiert diese Angabe zu einem „die Phänomenologie ist eine Theorie der ‚experience‘[10], und gibt dabei ebenfalls nicht an, ob er von Erlebnis, Erfahrung oder einer nochmal anders konnotierten „experience“ spricht.
Klarheit bringt auch der Versuch einer Erklärung durch Zigon und Throop nicht. Die schrammen bei der Beantwortung der Frage, was die phänomenologische Ethnologen unter „experience“ verstehen, zunächst haarscharf an einer Art Zirkelschluss vorbei – „Wenn (sie) über ‚experience‘ schreiben, beschäftigen sie sich vor allem mit den wesentlichen Bedingungen von ‚experience‘“–, um sich anschließend in philosophischen Exegesen vom Typ „was Menschsein in all seiner breiten sozio-historischen Diversität bedeutet“ zu verlieren.[11]
Dass die Problematik der unterschiedlichen „experiences“ zumindest einigen der Protagonisten der phänomenologischen Ethnologie nicht unbekannt war, zeigt der US-Ethnologe Robert Desjarlais in seiner Besprechung des zitierten Werks von Schnegg an, in der er dem Kollegen in Erinnerung ruft, dass Verständnisschwierigkeiten dadurch entstehen, dass im Deutschen zwei mit dem englischen „experience“ verwandte Begriffe gebräuchlich sind, „… Erlebnis und Erfahrung …” „… und … es eine ganze Palette (möglicher) Konnotationen, Implikationen … gibt …”[12]. Eine Ausdifferenzierung, die für das Verständnis wichtiger Elemente der phänomenologischen Philosophie von Bedeutung wäre.
Fragen, die das Sprachverständnis betreffen, stellen sich auch an anderer Stelle, etwa wenn Schnegg von „result of reflections“ als „Erlebnis“ spricht[13], eine zumindest erklärungsbedürftige Übersetzung, wenn man nicht das Erlebnisereignis selbst als synonym mit der Reflektion darüber verstehen will.
In diesem Zusammenhang fällt bei der Lektüre phäno-ethnologischer Texte auf, dass sich ihre Autoren zum größten Teil in ihrer Rezeption nicht auf die Husserl- und Heideggerschen Originaltexte, sondern auf zumeist englische Sekundärliteratur beziehen. Bei Dejarlais und Throop[14] etwa findet der Leser unter den unzähligen Quellenangaben gerade mal drei spärliche direkte Verweise auf Husserl[15] und je einen auf Heidegger (1889-1976)[16] bzw. auf Merleau-Ponty (1908-1961)[17], alle ihrerseits nur in der englischen Übersetzung und nicht im Original zitiert, was nebensächlich erscheinen mag, aber angesichts der erwähnten Übersetzungsproblematik durchaus relevant ist.
Mehr noch: Nach der Lektüre von Husserl und Heidegger im deutschen Original wird man nicht umhin können, sich zu fragen, ob deren Texte im angelsächsischen Sprachraum wirklich gelesen und in ihrer tendenziellen Verschwurbeltheit und Widersprüchlichkeit verstanden werden konnten; ein Eindruck, der auch durch das weitestgehende Fehlen einer direkten kritischen Auseinandersetzung mit ihnen wie auch einer Rezeption ihrer Kritiker (Adorno u.a.[18]) von Seiten der phäno-ethnologischen Autoren verstärkt wird. In diesem Zusammenhang werden wir u. a. auf den Sprachgebrauch Husserls und Heideggers im Zusammenhang des Husserlschen „eidos“ und der politischen Implikationen der Heideggerschen Begriffs- und Gedankenwelt zurückkommen müssen.
Die Auseinandersetzung mit den noch recht jungen Versuchen, die Phänomenologie bzw. die so genannte phänomenologische Methode in der ethnologischen Forschung anzuwenden, wird zwangsläufig zunächst und zumindest damit beginnen müssen, sich mit den phänomenologischen „Klassikern“ zu beschäftigen, mit ihren Maximen und Antinomien. Denn schon diese, soviel vorweg, könnten Zweifel an der behaupteten Nützlichkeit aufkommen lassen, ganz ohne – wir werden später darauf zurückkommen – die über weite Strecken diskussionswürdige Rezeption der phänomenologischen Philosophie durch die Wissenschaftler des kulturell Fremden bemühen zu müssen; eine Rezeption, die häufig Widersprüche und Inkohärenzen zwischen den vielen Varianten dieser Philosophie, ja sogar innerhalb der einen oder anderen dieser Varianten selbst, vernachlässigt bzw. gänzlich ignoriert.
Dabei tritt zu den erwähnten sprachlichen Schwierigkeiten die Tatsache, dass von DER Phänomenologie (und ihrer Methode) eigentlich gar nicht gesprochen werden kann. Schon bei der Lektüre der Klassiker fällt es schwer, von einer einheitlichen Theorie auszugehen. Wo etwa Husserls Ansatz deutlich von methodischen Fragen bestimmt wird, legt Heidegger den Akzent mehr auf die Erörterung der Frage nach dem Sinn des Seins und nähert sich damit wieder mehr der metaphysischen Philosophie, die Husserl ja gerade erst recht radikal zu verlassen gesucht hatte[19], so dass man sich streckenweise fragen kann, ob das trotz seines Bekenntnisses des Letzteren zur Husserlschen Maxime des „Zurück zu den Sachen selbst“ überhaupt unter den Begriff „Phänomenologie“ zu subsumieren ist.
Merleau-Ponty wiederum, dessen Ansatz gerne als „dritter“ oder „Mittelweg“ (zwischen dem Husserlschen und dem Heideggerschen) apostrophiert wird, wobei seine „existenzialistische“ Philosophie wohl eher aus der Erfahrung zweier Weltkriege und Diktaturen zu erklären ist als aus philosophie-immanenten Motiven, positioniert das Prinzip der Leiblichkeit als zentrales Element in der Phänomenologie, das nach vorherrschender Meinung[20] bei Husserl und Heidegger wenig bzw. keine Beachtung genießt, aber dafür umso mehr im Herr-Knecht-Kapitel von Hegels (1770-1831) „Phänomenologie des Geistes“[21], einer der Hauptschriften des „Metaphysikers“ par excellence also.[22] Auf ihn wird in diesem Essay häufiger eingegangen werden, weil er trotz des „idealistischen“ Ansatzes häufig viel klarer und nachvollziehbarer ist als Husserl und Heidegger.
Zwar gab es Versuche, die teilweise widersprüchlichen Theorien unter einen Hut zu bringen[23] – Herzog und Graumann etwa meinen, der Intentionalitätsbegriff, auf den noch zurückzukommen sein wird, bilde „den kleinsten gemeinsamen Nenner, unter dem auch heterogene methodische Ansätze in einer sie verbindenden phänomenologischen Perspektive interpretiert werden können“[24] –, aber die Diskrepanzen, um nicht gleich von Wirrwarr oder Kakophonie zu sprechen, wurden mit der Zeit, bedingt vor allem durch die Versuche, die Phänomenologie und ihre Methode für alle möglichen Wissenschaften (darunter Rechtswissenschaft, Naturwissenschaften, Ethnologie, Erziehungswissenschaften, Betriebswirtschaft, Soziologie u.v.m.) nutzbar zu machen[25], immer größer. Wobei die Feststellung von Rehding und Worreschk bemerkenswert ist, alle späteren Phänomenologen hätten sich „auf ihre je eigene Weise von Husserls ursprünglichem Programm distanziert“.[26]
In der Ethnologie, um die es in diesem Essay ja gehen wird, herrschen euphemistische Beschreibungen dieser Vielfalt oder dieses Chaos vor, so etwa wenn Desjarlais konstatiert „Obwohl jede dieser Perspektiven so verstanden werden kann, dass sie unterschiedliche Anwendungen der Phänomenologie implizieren, teilen sie doch alle thematische und methodologische Ausrichtungen, die von zeitgenössischen Ethnologen in unterschiedlicher Art aufgegriffen wurden.“[27] Schnegg sekundiert ihn in dieser Haltung und meint, „die Phänomenologie biete(t) eine Vielzahl von Konzepten, die noch nicht vollständig erforscht wurden.“[28]
Adorno auf der anderen Seite, der in diesem Essay noch mehrfach zu Wort kommen wird, weil er die vielleicht gründlichste Kritik an Husserl und Heidegger liefert, ist an dieser Stelle pietätlos: „Gedacht wird von Husserls Nachfolgern nur noch, um den Gedanken zu entmächtigen und ein gleichwohl verpflichtendes und darum abstraktes Dogma zu kanonisieren. Wenn der kritische Vollzug der zur Phänomenologie geronnenen Motive deren Löcher aufdeckt, die sie durch den Übergang von einem Begriff zum anderen vergebens stopft, so will in gewissem Sinn die Phänomenologie in ihrer ontologischen Endphase jene Löcher selbst.“[29]
Bleibt die Frage, ob es angesichts des Variantenwirrwarrs überhaupt sinnvoll ist, an dieser Stelle in eine ausführlichere kritische Auseinandersetzung mit der Phänomenologie, pardon den Phänomenologien und den Versuchen ihrer „Vereinnahmung“ durch die Ethnologie einzusteigen. Zu schnell könnte man sich nach jedem Halbsatz den Vorwurf einhandeln, „aber Waldenfells hat das ganz anders geschrieben“ oder „Heidegger ist da aber gar nicht einer Meinung mit Husserl“. Ich werde deshalb versuchen, die einzelnen Argumentationsstränge so voneinander zu trennen, dass erkennbar ist, wessen Position ich gerade meine und welche Kritikpunkte welche Position zum Ziel haben. Wobei immer klar sein muss, dass die Auseinandersetzung mit der Phänomenologie an dieser Stelle über weite Strecken nicht dem Anspruch einer wirklich umfassenden, tief gehenden Kritik genügen kann, die dann im Falle Husserls auch klarer auf die zeitliche Abfolge der unterschiedlichen theoretischen Aspekte eingehen müsste – eigentliches Ziel dieses Essays ist ja auch nicht die Phänomenologie selbst, sondern die Spielart der Ethnologie, die glaubt, sich aus ihrem „Werkzeugkasten“ bedienen zu können.
Unverzichtbar jedoch scheint die Aufgabe, will man eine Phänomenologie oder eine wie auch immer geartete phänomenologische Methode für die Ethnologie – und andere mögliche Wissenschaften – nutzen, zunächst zu klären, ob diese Philosophie, diese „strenge“, „apriorische Wissenschaft“[30], wie Husserl sagt, überhaupt von stimmigen Voraussetzungen ausgeht, wie etwa der der „eine(n) Welt“[31], von der man gerade in der Ethnologie, mit dem Aufkommen der Quantenmechanik spätestens auch in den Naturwissenschaften nicht mehr sprechen sollte.[32]
I – Antinomien des Denkens
Wer sich mit Phänomenologie – der Begriff geht auf das altgriechische φαινόμενον (phainómenon, Phänomen) zurück, was soviel wie Erscheinung, sich Zeigendes oder auch Sichtbares bedeutet – beschäftigen will, wird schwerlich an den Theorien Edmund Husserls vorbeikommen, eines Mitte des 19. Jahrhundert im österreichischen Mähren geborenen deutschen Mathematikers und Philosophen. Der Begriff Phänomenologie hält zwar bereits mit dem 18. bzw. 19. Jahrhundert etwa bei Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) und Immanuel Kant (1724-1804) Einzug in der deutschen Philosophie[33] und wird gelegentlich gar bis zu den Skeptikern das ausgehenden Mittelalters zurückverfolgt, von Hegel dann in seiner „Phänomenologie des Geistes“ Anfang des 19. Jahrhunderts als eine der Grundlagen seiner metaphysischen Philosophie ausformuliert.[34] Dennoch gelten Husserl und in gewissem Sinne sein Lehrer, der deutsche Philosoph und Psychologe Franz Brentano (1838-1917) als Begründer der als nicht- oder anti-metaphysisch charakterisierten phänomenologischen Philosophie[35] und damit der ganzen phänomenologischen Bewegung[36]. Nicht zufällig nannte Husserl seine ersten Versuche einer phänomenologischen Theorie noch „deskriptive Psychologie“, und der Geist dieser Titulierung blitzt auch in anderen Arbeiten immer wieder auf.[37]
In einem Text, den er für die Encyclopaedia Britannica schrieb, definiert Husserl seine Wissenschaft wie folgt: „‚Phänomenologie’ bezeichnet eine an der Jahrhundertwende (vom 19. zum 20, Jh., E. S.[38]) in der Philosophie zum Durchbruch gekommene neuartige deskriptive Methode und eine aus ihr hervorgegangene apriorische Wissenschaft[39], welche dazu bestimmt ist, das prinzipielle Organon (von altgriechisch ὄργανον, Werkzeug, E. S.) für eine streng wissenschaftliche Philosophie zu liefern und in konsequenter Auswirkung eine methodische Reform aller Wissenschaften zu ermöglichen.“[40] Aber das ist nicht die einzige Definition, die Husserl gibt, Holzhey etwa zitiert ihn aus Band I seiner „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“: „Die Phänomenologie ist … eine rein deskriptive, das Feld des transzendental reinen Bewusstseins in der puren Intuition durchforschende Disziplin.“[41] Was, fragt man sich, könnte weniger „rein deskriptiv“ und mehr vom Sozialen, von gelernten Denkmustern bestimmt sein, als die Intuition?
Der Akzent auf dem deskriptiven Charakter[42] seiner Philosophie prägt auch die Forderung „(Zurück) zu den Sachen selbst!“, die Husserl bereits um 1910 herum formulierte[43], und die als Maxime später auch von seinem Schüler Martin Heidegger in dessen Hauptwerk „Sein und Zeit“[44] aufgegriffen wurde. Heidegger erklärt dort: „Der Titel ‚Phänomenologie‘ drückt eine Maxime aus, die also formuliert werden kann: ‚zu den Sachen selbst!‘ … entgegen der Übernahme von nur scheinbar ‚ausgewiesenen Begriffen …“[45], sprich von Vorurteilen bzw. Vormeinungen.[46]
Das „zu den Sachen selbst“ ist allerdings keine empiristische oder realistische Aussage, sondern eine Kampfansage an die Weltanschauungsphilosophie[47], als die Husserl die gesamte klassische Philosophie bezeichnet, um dann sein Bemühen um eine „streng wissenschaftliche Philosophie“ zu präzisieren: „Nicht von den Philosophien, sondern von den Sachen und Problemen muß der Antrieb zur Forschung ausgehen“[48], und weiter: „Vernünftig oder wissenschaftlich über Sachen urteilen, das heißt aber, sich nach den Sachen selbst richten, bzw. von den Reden und Meinungen auf die Sachen selbst zurückgehen, sie in ihrer Selbstgegebenheit befragen und alle sachfremden Vorurteile beiseitetun.“[49] Dabei fällt der bizzarre Theoriebegriff auf, den Husserl in diesem Zusammenhang entwickelt: „… ein Stück reiner Beschreibung vor aller ‚Theorie‘. Theorien, das sagt hier Vormeinungen jeder Art …“[50] Theorien mit Vormeinungen, vielleicht gar Vorurteilen gleichzusetzen bzw. Theorielositgkeit mit Vorurteilsfreiheit, wie Husserl es postuliert, ist im Grunde nichts anderes als der Versuch, die gesamte Wissenschaftsgeschichte zu relativieren. Der aber fällt, das wird noch zu zeigen sein, letzlich auf seinen Autor selbst zurück.[51]
Deutlich anders als die Husserlsche Kampfansage[52] an die Adresse der klassischen Philosophie, Ansage mit erkenntnistheoretischem Schwerpunkt, klingt die entsprechende Definition bei Heidegger, der mit der Frage nach dem Sinn des Seins[53] wieder näher an die traditionelle Metaphysik rückt, obwohl auch er die Husserlsche Forderung „Zu den Sachen selbst“[54] aufgreift: Heidegger betont dann allerdings: „Phänomenologie ist Zugangsart zu dem und die ausweisende Bestimmungsart dessen, was Thema der Ontologie werden soll“, und weiter: „Ontologie ist nur als Phänomenologie möglich. Der phänomenologische Begriff von Phänomen meint als das Sichzeigende das Sein des Seienden, seinen Sinn, seine Modifikationen und Derivate.“[55] Später dann heißt es bezüglich der alten philosophischen Frage nach dem Verhältnis von Erkenntnistheorie und Ontologie noch entschiedener: „Sachhaltig genommen ist die Phänomenologie die Wissenschaft vom Sein des Seienden – Ontologie.“[56]
Zurück zu Husserl!: Auch wenn die Maxime der „Sachen“, zu denen man zurückgehen müsse, zur bekanntesten und offenbar weitestgehend akzeptierten Formeln aus der Gedankenwelt der Phänomenologie werden sollte, war der Begriff jedoch immer ein gutes Stück weit missverständlich – letztlich ungeklärt blieb, was „Sachen“ für die phänomenologische Philosophie eigentlich bedeuten.
Materielle „Dinge“, wie man das bei den „Sachen“ unserer Alltagssprache vermuten könnte, sind es jedenfalls nicht – auch wenn Husserl den Begriff „Dinge“ gelegentlich synonym mit „Sachen“ verwendet[57] – oder nicht alleine, und die Phänomenologie ist auch keine (Erkenntnis)Theorie aus dem theoretischen Reich von Empirismus, Realismus oder Naturalismus, wie der Wikipedia-Eintrag „Husserl“ weiß: „Husserls Maxime ‚zu den Sachen selbst‘ darf also nicht realistisch missverstanden werden, sondern ist Husserls Art und Weise, Transzendentalität zur Geltung zu bringen im Unterschied zum Eingewobensein in unsere alltäglichen Einstellungen.“[58] Für Husserl gehören auch Erinnerungen und Fantasien zu den „Sachen“ bzw. „Dingen“, was noch zu explizieren ist.
Die Sachen selbst
Auch unter Phänomenologen, so der Philosoph Holzhey, war und ist die Frage nach den „Sachen“ umstritten. Holzhey spricht von einer „tiefliegende(n) Differenz in der Auffassung der ‚Sachen selbst’“[59], wobei diese für den einen oder anderen noch zu Lebzeiten Husserls nicht „empiristisch“ bei sich selbst blieben, Objekte der unmittelbaren Anschauung und deskriptiven Wahrnehmung, sondern zu Phänomenen gerieten, deren Wesen zu erforschen war … eine „‚Wesensphilosophie‘ – von Husserl zwar einerseits despektierlich als ‚Bilderbuchphänomenologie‘ bezeichnet“, andererseits von ihm selbst als „Wesensanschauung“[60] ins Zentrum seiner Theorie gestellt wurde, in der „die Analyse der subjektiven Gegebenheitsweise zurück(trat)“[61]. Holzhey bezeichnet das als Wendung zum Objekt, während die Husserlschen „Sachen selbst“ ja originär nur „in subjektiven Vollzügen anschaulicher Selbstgebung zum Vorschein (kämen), diese Vollzüge aber … im menschlichen Bewusstsein beheimatet (seien).“[62] Auf die Widersprüchlichkeiten in der phänomenologischen Konzeption des „Wesens“ kommen wir noch zurück – hier sei nur festgehalten, dass Husserls nicht nur Sachen, sondern auch ihr „eidos“, von Husserl als „Wesen“ eingeführt, ja sogar Produkte der Fantasie als „originär“, also ursprünglich und nicht als Resultat von theoretischen Prozessen betrachtet: „Würde die freie Fiktion … zur Einbildung von prinzipiell neuartigen, z. B. sinnlichen Daten führen ... so würde das an der originären Gegebenheit der entsiprechenden Wesen nichts ändern: obschon eingebildete Data nie und nimmer wirkliche Data sind.“[63]
Die Husserlschen „Sachen selbst“ waren übrigens in der europäischen Philosophie nichts wirklich Neues und schon bei Hegel gründlich „durchgefallen“. „Die Sache selbst“, erachtet der deutsche Philosoph und Hegel-Spezialist Georg W. Bertram, „ist (bei Hegel, E. S.) nichts, um das es einem Individuum von sich aus gehen kann. Die Sache selbst erfordert eine Interaktion von Individuen, die sich im Rahmen einer Gemeinschaft auf diese Sache beziehen, so dass die Interaktionen im Rahmen der Gemeinschaft als Substanz des Individuums zu verstehen sind“[64], und Hegel selbst spricht mit Bezug auf die „Sachen selbst“ von einem „Betrug seiner selbst und der anderen“[65].
Auch der Phänomenologe Bernhard Waldenfels warnt recht deutlich vor einer zu banalen Sicht auf die „Sachen selbst“: „"Dass man von der Sache selbst auszugehen hat und nicht von sachfremden Vormeinungen, … das sind Gesichtspunkte der Forschung, die auch heute nicht zu den schlichten Selbstverständlichkeiten zählen. Doch wäre Phänomenologie nichts weiter als eine Schule des Sehens und Sehenlassens, … , so wäre sie lediglich eine Art von methodologischem Propädeutikum, und nicht, wie Husserl es sich vorstellte, eine philosophische Phänomenologie mit grundlgenden Auswirkungen bis in die Wissenschaften hinein.“[66] Recht hat Waldenfels allemal in der Frage der „Vormeinungen“ – sachfremd oder nicht –, derer sich gerade die Ethnologie bei ihrer Theoriebildung zumindest bewusst sein sollte. Aber dazu und zur Frage einer apriorischen Wissenschaft mehr im Kapitel über die phänomenologische Methode.
Die Fokussierung auf die „Sachen selbst“ suggeriert tatsächlich, dass es sich bei der Phänomenologie um eine empiristische Erkenntnistheorie – zu diesem Missverständnis trägt nicht zuletzt die einleitend zitierte Husserl-Aussage bei, die Phänomenologie sei eine (rein) „deskriptive Methode“ – handeln könnte, mit der ihr eigenen Problematik, dass natürlich sinnliche, empirische Wahrnehmung und verstehendes Wahrnehhmen[67] nicht identisch sind[68], eine Frage, die Husserl zumindest nicht beantwortet, wenn er sagt: „Um ins Klare zu kommen, suchen wir die letzte Quelle auf, aus der die Generalthesis der Welt, die ich inder natürlichen Einstellung vollziehe, ihre Nahrung schöpft … Offenbar ist diese letzte Quelle die sinnliche Erfahrung. Es genügt aber für unsere Zwecke, die sinnliche Wahrnehmung zu betrachten, die unter den erfahrenden Akten in gewissem Sinne die Rolle einer Urerfahrung spielt, aus der alle anderen erfahrenden Akte einen Hauptteil ihrer begründenden Kraft ziehen.“[69]
Bei der Lektüre der verschiedenen phänomenologischen Ansätze kann man so nicht umhin, ein gewisses Hin und Her zwischen Ontologie und Erkenntnistheorie, zwischen Apriorismus und Vorurteilsfreiheit, zwischen sinnlicher Wahrnehmung und verstehender Aneignung zu konstatieren. Und wenn Waldenfels feststellt, eine „Phänomenologie, die nicht mehr auf einen grundlegenden oder gar allumgreifenden Logos bauen … (könne), … (nehme) Züge einer Ethnologie, einer Fremdheitslehre …“[70] oder gar einer „Teleologie“[71] an, so kritisiert er sogar zu Recht eine vor-hegelisch wirkende Verwechslung von Logik und Genese in der Phänomenologie und bei den Phänomenologen.
Um zu den zentralen Aussagen der Phänomenologie zu gelangen, müssen allerdings erst einmal viele Sachverhalte und Begrifflichkeiten neu – gegenüber ihrer gängigen Alltagsbedeutung – bestimmt werden, eine Arbeit, der Husserl und Heidegger viel Raum widmen. Bereits in der Einleitung dieses Essays war von einem auffälligen Sprachgebrauch die Rede, der kein Randproblem und kein Zufallsprodukt sei. Ohne diese sprachliche Eigentümlichkeit, dieses Umwidmen von Begriffen wie Tatsache, Faktizität, Wirklichkeit, Welt, Phänomen oder auch „eidos“, auf das wir noch zurückkommen, ist die gesamte Phänomenologie schlicht unverständlich, um nicht zu sagen aussagelos. Ohne das zu berücksichtigen können wir „Phänomen“, „Wahrnehmung“, „Erscheinung“ oder auch „Wesen“ in ihrer gewollten oder tatsächlichen Bedeutung nicht erfassen.
Definitionswut
Heideggers Lieblingsdiktum in diesem Zusammenhang scheint „nennen“ zu sein, genauer „nennen wir“. „Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält, nennen wir Existenz“ heißt es da gleich am Anfang von „Sein und Zeit“.[72] Und wenig später klingt es reichlich voluntaristisch: „Solches Sichzeigen nennen wir Scheinen“[73], wobei Heidegger die Antinomie von Reellem („Sichzeigen“) und Illusion („Scheinen“) auch nicht in der Anweisung auflösen kann, „Wir weisen den Titel ‚Phänomen‘ terminologisch der positiven und ursprünglichen Bedeutung von φαινόμενον (phainómenon, E. S.) zu und unterscheiden Phänomen von Schein als der privativen Modifikation von Phänomen“[74]. Er lässt dabei den Leser rätseln, ob diese Definition willkürlich gewählt ist, ob sie Erklärungswert hat oder vielleicht auch nur der Devise folgt „Was nicht passend ist, wird passend gemacht!“ Gelegentlich wirken diese Definitionen ohnehin leicht tautologisch, so wenn Heidegger schreibt: „Dasein ist Seiendes, das sich in seinem Sein verstehend zu diesem Sein verhält … Diese Seinsbestimmungen des Daseins müssen nun aber a priori auf dem Grunde der Seinsverfassung gesehen und verstanden werden, die wir das In-der-Welt-sein nennen.“ Wundern muss es deshalb nicht, wenn sich bei solchen Passagen der Eindruck einstellt, die phänomenologische Kost bestehe aus Binsenwahrheiten: „Das In-der-Welt-sein überhaupt als Grundverfassung des Daseins“[75]
Das Geheimnis hinter so viel Formuliererei und definitorischer Anstrengung, um nicht zu sagen Definitionswut, erschließt sich nur schwer, und die Vermutung drängt sich auf, es könne sich vielleicht nur um eine scheinlogische, im Grund inhaltsleere Abfolge von Aussagen handeln, deren Zweck einzig darin besteht, von den „Sachen“ über umgewidmete „Tatsachen“, „Faktizitäten“ oder „Wirklichkeiten“ hin zu den „Phänomenen“ zu führen. Mit der Aussage „… die Tatsächlichkeit der Tatsache des eigenen Daseins (ist) ontologisch grundverschieden vom tatsächlichen Vorkommen einer Gesteinsart. Die Tatsächlichkeit des Faktums Dasein, als welches jedes Dasein ist, nennen wir Faktizität“[76] jedenfalls wird unterstrichen, dass Heideggersche ontologische Tatsachen mit unseren alltäglichen Tatsachen erst einmal nichts oder nicht viel zu tun haben (wollen). Irrelevant, könnte man folgern, würden nicht diese apodiktischen Definitionen zu Axiomen der weiteren Ausführungen.
Apodiktisch und apolegetisch wäre zu ergänzen, wenn etwa Husserl betont: „Die ‚Wirklichkeit‘, das sagt schon das Wort, finde ich als daseiende vor und nehme sie, wie sie sich mir gibt, auch als daseiende hin. Alle Bezweiflung und Verwerfung von Gegebenheiten der natürlichen Welt ändert nichts an der Generalthesis der natürlichen Welt. ‚Die‘ Welt ist als Wirklichkeit immer da, sie ist höchstens hier oder dort ‚anders‘‘ als ich vermeinte, das oder jenes ist … ‚Schein‘. ‚Halluzination‘…“[77] Es ist die Beschreibung der Lebenswelt als unhinterfragte (sic!) Wirklichkeit, die der Betrachtung oder gar schon der einfachen Wahrnehmung dieser Wirklichkeit jegliche Kritisierbarkeit entzieht: Bedenklich wird dieser apologetische Charakter von „Wirklichkeit“ vor allem bei Heidegger, in politischer Hinsicht, wie noch zu zeigen sein wird. Nicht einmal mit Zielrichtung Natur und Naturwissenschaften ist eine solche Haltung akzeptabel – und war es auch nicht zu Husserls und Heideggers Zeiten, als die Quantenphysik bereits die Existenz unterschiedlicher Naturgesetzlichkeiten für die „große“ und für die mikroskopisch „kleine“ (Teilchen)Welt thematisiert hatte.[78]
Adorno, in seiner Auseinandersetzung mit Husserl, charakterisiert die sprachliche Umwidmungswut treffend: „Husserl jedoch eröffnet die Preisgabe der Empirie nicht die ungeschmälerte Einsicht in dergleichen Zusammenhänge, sondern er wiederholt achselzuckend das ausgelaugte Vorurteil, es käme alles auf den Standpunkt an. Mit der Erkenntnis des Faktischen wird es nicht so genau genommen, weil sie ohnehin mit dem Mal der Zufälligkeit behaftet bleibe. ... Diese Bescheidenheit ist falsch wie ihr Komplement, die Hybris des Absoluten“[79], wobei er einen weiteren Punkt anspricht, der Husserls Tatsachenverständnis charakterisiert, die Zufälligkeit von Tatsachen[80]: „Individuelles Sein ist … ‚zufällig‘ … Aber der Sinn dieser Zufälligkeit, die da Tatsächlichkeit heißt, begrenzt sich darin, dass sie korrelativ bezogen ist auf eine Notwendigkeit, die nicht den bloßen faktischen Bestand einer geltenden Regel der Zusammenordnung räumlich-zeitlicher Tatsachen besagt, sondern den Charakter der Wesens-Notwendigkeit und damit Beziehung auf Wesens-Allgemeinheit hat.“[81] Diese Zufälligkeit des Tatsächlichen hatte Husserl schon früh thematisiert, wobei sie seiner Philosophie einen genauso deutlichen Touch Metaphysisches gab, wie das auch bei seiner Beschreibung der „eidetischen“ Wirklichkeit als Vereinzelung eines Wesentatbestands der Fall ist.[82]
Sein Versuch der Auseinandersetzung mit der kausalistischen Metaphysik geht damit nach hinten los. Wenn die Zufälligkeit wirklich den „Charakter der Wesens-Notwendigkeit“ hat, ist dann nicht durch die Hintertüre die Kausalität, metaphysisch oder nicht prioritär herrschender Theorien und Axiome wieder eingeführt, die Husserl eigentlich mit seiner Philosophie überwinden oder, wie Rehding und Worreschk das formulieren, „von den erkenntnistheoretischen und metaphysischen Voraussetzungen“[83] lösen wollte? Husserl ersetzt die alten philosophischen Wahrheiten durch neue, mindestens genau so unausgewiesene, in einer Zeit, in der von verschiedenen koexistierenden Wahrheiten bereits die Rede ist. Das Ergebnis ist die erwähnte merkwürdige Mixtur aus deskriptiver Erkenntnistheorie und metaphysierender Ontologie.
Es ist diese Widersprüchlichkeit zwischen Anspruch und Resultat, die Husserls Theorie in vielen Fragen charakterisiert. Wenn er schreibt: „Auf diese Welt, die Welt, in der ich mich finde und die zugleich meine Umwelt ist, beziehen sich die Komplexe meiner mannigfach wechselnden Spontaneitäten des Bewusstseins des forschenden Betrachtens, des Explizierens und Auf-Begriffe-bringens … kurzum des theoretisierenden Bewusstseins in seinen verschiedenen Formen und Stufen“[84], führt er dann nicht gerade jenes theoretische Bewusstsein, d. h. die theoretische Verarbeitung von Wahrnehmungen, durch die Hintertüre wieder ein, das er eigentlich „außen vor“ halten wollte. Es ist richtig, dass er diese theoretische Vernehmung gerne „ausklammern“ möchte – davon wird noch die Rede sein[85] –, aber das erweist sich dann als die große Illusion der Phänomenologie und der von ihr inspirierten Ethnologie.
Es ist übrigens eine Antinomie, die sich für den deutlich stärker ontologisch, fast hätte ich jetzt gesagt metaphysisch orientierten Heidegger nicht als problematisch erweist: „In-sein ist … der formale existenziale Ausdruck des Seins des Daseins, das die wesenhaftte Verfassung des In-der-Welt-seins hat. Das ‚Sein bei‘ der Welt … ist ein im In-Sein fundiertes Existenzial“ und weiter. „Das ‚Sein bei‘ der Welt als Existenzial meint nie so etwas wie das Beisammen-vorhanden-sein von vorkommenden Dingen.“ „Zwei Seiende, die innerhalb der Welt vorhanden und überdies an ihnen selbst weltlos sind, können sich nie ‚berühren‘.“[86]
Wie der Zufall oder die Tatsache, ist auch die „Welt“ der Phänomenologen weder die unseres Alltagsverstands, noch die der metaphysischen Philosophie. Sie ist kein unabhängig vom Menschen existierender Raum – oder gerne auch Raum-Zeit-Kontinuum –, sondern „ … der Gesamtinbegriff von Gegenständen möglicher Erfahrung und Erfahrungserkenntnis, von Gegenständen, die aufgrund aktueller Erfahrungen in richtigem theoretischen Denken erkennbar sind.“[87]
Wobei es Husserls Geheimnis bleiben muss, wie er „die Welt, in der ich mich befinde“ und in der sich „die Komplexe meiner mannigfache wechselnden Spontaneitäten des Bewusstseins des forschenden Betrachtens, des Explizierens und Auf-Begriffe-Bringens … kurzum des theoretisierenden Bewusstseins …“[88] in Einklang mit der Forderung nach einer „vollkommen ‚theoriefrei‘ genommen(en)“[89] Erfahrung der Welt bringen will. Mit dem Hinweis, alle Theorie „einzuklammern“ jedenfalls ist das nur schwer möglich, wie noch zu zeigen sein wird. Wobei auch im Trüben bleibt, ob Husserl nur die Theorie, die theoretischen Vormeinungen einklammern bzw. ausschalten will oder nicht die Empirie schlechthin, die er wohl für „unrein“ hält. In den „Grundproblemen“ schreibt er jedenfalls ganz explizit genau das: „Das Problem der Ausschaltung des Empirischen sowie des Wesens der Natur“ und stellt die Frage: „Können wir nicht eine Einstellung gewinnen derart, dass das Empirische, das Eigentümliche der Gegebenheit der natürlichen Einstellung, ganz ausgeschaltet bleibt, und zwar so, dass auch sein Wesen als Wesen von Natur ausgeschaltet bleibt, während andererseits doch Komponenten erhalten bleiben, die in das Wesen von Natur, bzw. in die Natur selbst in individuo eingehen?“[90]
Ergo, die Welt ist für Phänomenologen das, was der Mensch von ihr wahrnimmt, und das ungeachtet der und im klaren Widerspruch zu den vielen Erkenntnisse, die etwa die theoretische Physik aus rein abstrakten (mathematischen), oft sehr lange nicht evidenzbasierten, nicht empirisch verifizierten und verifizierbaren Gedankengängen bzw. Theorien, d. h. ausdrücklich nicht aus unmittelbarer (sinnlicher) Wahrnehmung bezieht und ungeachtet der Tatsache, dass Husserl selbst diese Naturwissenschaften, deren Erkenntnisse er damit ignoriert, praktisch im selben Atemzug als „Wissenschaften von der Welt“[91] anerkennt. Adornos Charakterisierung als „widersprüchlich“ hatten wir ja bereits zitiert.
Originär und sinnvoll?
Was aber steckt hinter diesen Umwidmungen und Neudefinitionen? Zu seiner Auffassung von „Welt“, von Realität, kommt Husserl ja dadurch, dass er Wahnehmung und Erkenntnis auf eine Erste Person bzw. eine Erste-Person-Perspektive fixiert, auch wenn diese Erste Person als „viele“, im sozialen Kontext[92] agieren kann: „Wir beginnen unsere Betrachtungen als Menschen des natürlichen Lebens (was auch immer das bei im Wesentlichen sozialen Lebewesen sein soll, E. S.), vorstellend, urteilend, fühlend, wollend.“ Husserl geht dabei von einer „Welt … endlos ausgebreitet im Raum ...“ aus, die Tatsache missachtend, dass sich das „Endlose“ wie auch andere Abstrakta der (sinnlichen) Wahrnehmung bzw. konkreten Vorstellungskraft jeder Ersten Person – d.h. dem menschlichen Gehin – entziehen.[93]
Damit ist die Definition der (originären) Wahrnehmung bei Husserl wohl nicht zufällig so schwammig gehalten: „… die originär gebende Erfahrung ist die Wahrnehmung, das Wort in dem gewöhnlichen Sinne verstanden“[94]. Oder, wie Held es ausdrückt: „Alles, wovon sich sinnvoll reden lässt, muss mir in irgendwelchen spezifischen Weisen originärer Gegebenheit zugänglich sein.“[95] Unklar bleibt, ob hier wirklich die sinnliche Wahrnehmung – Agent das so genannte limbische System (Amygdala) des Gehirns, das seine Wahrnehmungen in körperliche Gefühle „übersetzt“ – oder die verstehende durch den Neocortex mit seinen abgespeicherten Modellen oder Simulationen gemeint ist[96], da hätte ein wenig mehr Definitionswut gut getan. Das umso mehr, als Husserl auch das Resultat seiner „Reduktionen“, also als Resultat eines in gewissem Sinne fortschreitenden bewussten Abstraktionsprozesses oder einer Elimination alles Transzendentalen, als „originär“ bezeichnet; aber darauf kommen wir noch zurück. Heidegger hat an diesem übrigens eine eindeutigere Haltung zur sinnlichen Wahrnehmung, der er als einziger Wahheitsgehalt attestiert: „‚Wahr‘ ist im griechischen Sinne … das schlichte, sinnliche Vernehmen von etwas.“[97]
Adorno widmet dem Husserlschen „originär“ einige seiner schärfsten Kritiken: „Vielmehr sind die vorgeblich originären Begriffe, zumal die der Erkenntnistheorie, als welche sie bei Husserl auftreten, allesamt und notwendig vermittelt oder – nach hergebracht wissenschaftlicher Redeweise – ‚voraussetzungsvoll‘. Zur Kritik steht der Begriff des absolut Ersten selber … Jeglicher Versuch, einer privilegierten Kategorie dies Recht (Erste zu sein, E. S.) zuzuspielen, verfängt sich in Antinomien.“[98] Und weiter: „In dem als philosophisch Erstem behaupteten Prinzip soll schlechthin alles aufgehen, gleichgültig, ob dieses Prinzip Sein heißt oder Denken, Subjekt oder Objekt, Wesen oder Faktizität … Und ein jegliches allgemeines Prinzip eines Ersten, wäre es auch das der Faktizität im radikalen Empirismus, enthält in sich Abstraktion“[99], also Denkvorgänge mit Hilfe des Neocortex und damit weit mehr als nur Wahrnehmung. Um letztlich zu schließen: „Selbst jener Empirismus könnte kein einzelnes jetzt und hier Seiendes, kein Faktum als Erstes reklamieren, sondern einzig das Prinzip von Faktischem überhaupt. Als Begriff ist das Erste und Unmittelbre allemal vermittelt und darum nicht das Erste[100] … Indem das Erste der Philosophie immer schon alles enthalten soll, beschlagnahmt der Geist, was ihm nicht gleicht, macht es gleich, zum Besitz[101] … Unwahrheit der Idee des Ersten selber. Das Erste muss der Ursprungsphilosophie immer abstrakter werden; je abstrakter aber es wird, desto weniger erklärt es mehr, desto weniger taugt es zur Begründung.“[102]
Dass „Wirklichkeit“, „Wahrheit“ oder „Faktizität“ nur als wahrgenommene Geltung haben, nur als erscheinende „originär“ sind, ist ohnehin eine steile These. Zu zahlreich sind die Tatsachen oder Ereignisse, von denen wir (noch) nichts wissen, ohne dass man deshalb sagen könnte, dass sie nicht originär existieren oder zumindest keine Relevanz für uns besitzen. Da braucht man gar nicht einmal über mögliche, noch nicht entdeckte, aber bereits mit Kollisionskurs auf die Erde zurasende Asteroiden zu spekulieren. Nicht existent? Keine Relevanz für uns?[103] Es reicht, z. B. an (mathematisch-physikalische) Phänomene wie etwa das Unendliche zu denken, mit dem wir rechnen, von dem wir aber keine wirkliche, konkrete Vorstellung besitzen (können). Oder daran, dass viele Thesen der theoretischen Physik, insbesondere der Quantenmechanik, mathematisch, d. h. rein abstrakt „bewiesen“ wurden, lange bevor sie im Laborversuch Evidenz erlangten. Nicht existent? Nicht relevant? Wer das in den 1920ern noch geschrieben hat, mag für sich eine Gnade der (zu) frühen Geburt einfordern, aber solches noch in einer Zeit zu betonen, in der gerade zu lesen ist, dass Wissenschaftler bei Forschungen zur Quantenverschränkung[104] jetzt eine Geschwindigkeit jenseits des menschlichen Vorstellungsvermögens entdeckt haben[105], erscheint doch sehr gewagt.
Evidenz ist übrigens eine weitere der für die Phänomenologie zentralen Begrifflichkeiten, von Held als „methodische Fundamentalforderung der Evidenz …“ angesprochen und wiederum sehr tautologisch klingend eingeordnet: „Phänomenologie als Methode ist der Versuch, Evidenz über Evidenz herbeizuführen.“[106] Von dieser Evidenz soll sich die Wissenschaft, ganz besonders aber die „strenge Wissenschaft“ der Phänomenologie leiten lassen, die Husserls Ideal darstellt. Wie schwammig einmal mehr diese Begriffsbildung ist, wird klar, wenn die phänomenologische Methode als Rekurs auf evidente Phänomene dargestellt wird, „die durch Intuition mit absoluter Sicherheit gegeben sind.“[107] „Strenge“ Wissenschaft durch Intuition also? Wissenschaftliche Arbeit und absolute Sicherheit mit Bauchgefühl? Verstehen durch sinnliche Wahrnehmung? Oder gibt es eine andere Möglichkeit, solche Antinomien aufzulösen? Adorno kennt offenbar keine: „Der Schein der Konkretion war das Faszinosum der (phänomenologischen, E. S.) Schule. Geistiges sollte anschaulich, unmitttelbar gewiss sein. Die Begriffe werden sinnlich getönt.“[108]
Was hier auch wieder zum Vorschein kommt, ist die stark individualistisch-subjektivistische Prägung der Husserlschen Erkenntnistheorie. Wie anders sonst wäre der Rekurs auf die „Intuition“ sonst zu erklären? Vielleicht noch über das Phänomen von Massenemotionen, wie sie in Deutschland zwischen 1933 und 1945 die Gemüter vergifteten?
Die subjektivistische Prägung[109] tritt vor allem in der Verschränkung der Evidenz mit dem Prinzip der Intentionalität zutage. Intention, respektive Intentionalität ist im Bereich der Philosophie ein Terminus der Scholastik aus dem 14. Jahrhundert, der von Brentano wieder für die philosophische Diskussion aufgegriffen wurde. Auch hier allerdings kann der gemeine Sprachgebrauch beim Versuch, diese Verschränkung zu verstehen, in die Irre führen. Eine Intention ist eigentlich eine Absicht, aber es wäre nicht mehr als die ganz gewöhnliche menschliche Hybris, wollte man jede Wahrnehmung, jede wenn auch nur passiv gemachte Erfahrung, jedes Erkennen, jedes Verstehen oder Lernen als zielgerichtet und vor allem gewollt, also absichtsvoll zielgerichtet bezeichnen; dazu wird die Welt, auch die der Wissenschaft, durch zu viele Zufallsentdeckungen strukturiert und verstanden, dazu ist die menschliche Ontogenese mit zu vielen spielerisch-zufälligen, aber eben nicht absichtsvollen Elementen ausgestattet.
Subjektivistisch verschränkt
Nein, mit „Absicht“ oder „absichtlich“ hat diese Intentionalität nichts zu tun, sie ist andererseits „mehr“ als das in der Philosophie häufig erklärend genannte „sich beziehen auf etwas“ oder „handeln von etwas“. Vielmehr ist damit in der Phänomenologie das Gerichtetsein des Bewusstseins gemeint. „Allgemein gehört es zum Wesen jedes aktuellen cogito, Bewusstsein von etwas zu sein“[110], schreibt Husserl dazu und ergänzt: „Alle Erlebnisse, die … Wesenseigenschaften gemein haben, heissen auch ‚intentionale Erlebnisse‘; sofern sie Bewusstsein von etwas sind, heißen sie auf dieses Etwas ‚intentional bezogen‘.“[111] Allerdings unterscheiden sich etwa Husserl und Merleau-Ponty in diesem Punkt recht deutlich.[112] Während bei Ersterem die Intentionalität konkret und aktiv auf eine Sache, ein Phänomen gerichtet ist, besteht sie bei Letzterem eher in einer körperlichen Disposition für Wahrnehmungen aller Art, was dem Gesamtsystem der Phänomenologie eine weitere, nicht sehr präzise Definition hinzufügt.
Wenn der Begriff der Intentionalität schon bei den phänomenologischen Klassikern umstritten ist, dann erscheint er im Lichte neurowissenschaftlicher Forschungen der letzten Jahrzehte zusätzlich diskussionswürdig. Herzog und Graumann etwa schreiben: „Für die Phänomenologie heißt Beschreibung prinzipiell intentionale Beschreibung. Das bedeutet aber … dass menschliches Verhalten … so beschrieben wird, wie das jeweilige Subjekt seine intentionale Umwelt … erfährt“, und weiter: „… dann soll damit deutlich werden, dass sich diese intentionale Deskription von der jeweiligen Erfahrung leiten lässt und nicht von … Vorannahmen.“[113] Das Beisetelassen von Vorannahmen, das etwa in der Ethnologie im Rahmen der Eurozentrismusdebatte durchaus sinnvoll erscheint, wird noch zu ausführlicher zu diskutieren sein. Dass es im von der Phänomenologie geforderten, weitergehenden Ausmaß realistisch oder realisierbar sein soll, darf man im Lichte der erwähnten neurowissenschaftlichen Forschungen bezweifeln – Forschungen, die übrigens auch die Frage aufwerfen, ob sich Intentionalität und Vorannahmen-Freiheit als philosophische Maxime nicht widersprechen.
Eigentlich wäre es ja nicht wirklich überraschend, definierte man die Phänomenologie als Wissenschaft vom erfahrenden Bewusstsein, wobei dieses Bewusstsein auf etwas wie z. B. „Sachen“ gerichtet wäre oder sein müsste[114]. Das unterschiede sich dann nicht einmal großartig vom Ansatz Hegels in seiner „Phänomenologie des Geistes“, wo es heißt: „… das Bewusstsein ist einerseits Bewusstsein des Gegenstandes, andererseits Bewusstsein seiner selbst; Bewusstsein dessen, was ihm das Wahre ist, und Bewusstsein seines Wissens davon“[115], was immerhin einen vom menschlichen, erkennenden Subjekt ausgehende Bewusstseinsakt impliziert. Mit ein wenig Chuzpe könnte man der Aussage, dass „‚Bewusstsein immer ‚Bewusstsein-von-etwas‘“ sei, sogar die Qualität einer Binsenwahrheit attestieren (Ausnahme die lächerlichen Bindestriche).
Hegel allerdings war auch in diesem Punkt weiter, da er immerhin als Ziel des gerichteten Bewusstsein nicht nur objektartige „Sachen“, sondern qua Selbstbewusstsein auch das wahnehmende Subjekt selbst anerkennt. Oder, wie Adorno es ausdrückt: „Hegel wusste, trotz der Lehre vom absoluten Geist, dem er die Philosophie zurechnete, diese als bloßes Moment in der Realität … und schränkte sie damit ein.“[116]
Kompliziert wird es in der Phänomenologie erst dort, wo nicht mehr die „Sachen“, sondern „Phänomene“[117] in den Fokus geraten. Durch Reflexion, sagt Husserl, „erfassen wir statt der Sachen schlechthin … die entsprehchenden subjektiven Erlebnnisse, in denen sie uns ‚bewusst‘ werden, uns in einem allerweitesten Sinne ‚erscheinen‘. Sie heißen daher auch ‚Phänomene‘, ihr allgemeiner Wesenscharakter ist es, zu sein als ‚Bewusstsein von‘, ‚Erscheinung von‘ … Der … Ausdruck für jenen Grundcharakter des Seins als Bewusstsein, als Erscheinung von etwas ist Intentionalität. In dem unreflektierten Bewussthaben irgendwelcher Gegenstände sind wir auf diese ‚gerichtet‘, unsere ‚intentio‘ geht auf sie hin. Die phänomenologische Blickwendung zeigt, dass dieses Gerichtetsein ein den betreffenden Erlebnissen immanenter Wesenzug ist, sie sind ‚intentionale‘ Erlebnisse.“[118]
Quasi unter der Hand wird hier eine Subjekt-Objekt-Verschiebung angekündigt, nach der nicht mehr der wahrnehmende oder reflektierende Mensch, sondern die „Sachen“ in Gestalt von „Phänomenen“ zu den eigentlichen Agenten der Wahrnehmung werden. So, als besäßen die „Sachen“ ihre eigene, innere Lebendigkeit, die sie natürlich, zumindest was das Erkennen und Verstehen angeht, nicht in der realen Welt besitzen – es sei denn, man sei ein Anhänger animistischer Religionen. Auch hier, darauf besteht Heidegger, muss zwischen der Alltags- und der phänomenologischen Bedeutung strikt unterschieden werden.
Das Phänomen ist Erscheinung, sich Zeigendes oder auch Sichtbares, hatten wir eingangs gesehen. „Als Bedeutung des Ausdrucks ‚Phänomen‘“, so Heidegger, „ist daher festzuhalten: das Sich-an-ihm-selbst-zeigende, das Offenbare. Die φαινόμενα, ‚Phänomene‘, sind dann die Gesamtheit dessen, was am Tage liegt oder ans Licht gebracht werden kann, was die Griechen zuweilen einfach mit τὸ ὄντα (das Seiende) identifizierten.“[119] Aber Heidegger reicht eine solche Definition nicht aus. Er besteht darauf, dass Phänomen nur heißen darf, was „Sich-an-ihm-selbst-zeigende(s)“ ist: „Die verwirrende Mannigfaltigkeit der ‚Phänomene‘, die mit den Titeln Phänomen, Schein, Erscheinung, bloße Erscheinung genannt werden, lässt sich nur entwirren, wenn von Anfang an der Begriff von Phänomen verstanden ist: das Sich-an-ihm-selbst-zeigende.“[120]
Denn: „Erscheinung als Erscheinung ‚von etwas‘ besagt demnach gerade nicht: sich selbst zeigen, sondern das Sichmelden von etwas, das sich nicht zeigt, durch etwas, was sich zeigt. Erscheinen ist ein „Sich-nicht-zeigen‘.“[121] Und wenn Heidegger fortfährt: „Obzwar ‚Erscheinen‘ nicht und nie ist ein Sichzeigen im Sinne von Phänomenen, so ist doch Erscheinen nur möglich auf dem Grunde eines Sichzeigens von etwas. Aber dieses Erscheinen mit ermöglichende Sichzeigen ist nicht das Erscheinen selbst. Erscheinen ist das Sich-melden durch etwas, was sich zeigt ... mit dem Wort ‚Erscheinung‘ weisen wir auf etwas hin, darin etwas erscheint, ohne selbst Erscheinung zu sein …“, so muss sich die Frage stellen, ob er nicht da gerade eine zentralen Maximen der Phänomenologie, nämlich die der unmittelbaren, „reinen“ Wahrnehmung wieder verabschiedet.
In Abgrenzung zu Kant, für den laut Heidegger Erscheinungen „Gegenstände der empirischen Anschauung“[122] sind, auch wenn die Erscheinung zu bloßem Schein werden kann, dort wo es sich etwa um eine interpretierbare Erscheinung oder eine Täuschung handelt, muss sich das Erscheinende (Verweisende, Meldende) an ihm selbst zeigen, um Phänomen zu sein. „Phänomene sind nie Erscheinungen, wohl aber ist jede Erscheinung angewiesen auf Phänomene.“[123] Wobei diese Definition noch Raum für einen formalen oder einen vulgären Phänomenbegriff lässt: Einzig „… dieses Sich-so-an-ihm-selbst-zeigende (‚Formen der Anschauung‘) sind Phänomene der Phänomenologie“[124].Nicht Sachen, Gegenstände oder Ereignisse sind hier gemeint, sondern das „wie“ ihres Erscheinens: „Die Gegenstände im Wie ihres Erscheinens in zugeordneten Gegebenheitsweisen sind die ‚Phänomene‘ … „nichts anderes, als das in der Welt ‚an sich‘ Seiende, aber rein so, wie es sich in der situativen Jeweiligkeit des subjektiven ‚für-mich‘ zeigt.“ hatte Held in seiner Eiinleitung von Husserls „phänomenologischer Methode“ postuliert.[125]
Apriorismen
Von einer gewissen Definitionswut hatten wir bereits bei Husserl gesprochen, und im Falle Heideggers kann man vermuten, dass vieles, was er postuliert, nur schwer auf seinen Sinn abgeklopft bzw. hinterfragt werden kann: Es sind wohl die Axiome dessen, was Husserl noch als „strenge“, „voraussetzungslose“ Wissenschaft konzipieren wollte, die durch ihre Widersprüchhlichkeit für Probleme sorgen. Schon in der eingangs zitierten Husserlschen Definition der Phänomenologie fällt auf, dass der Philosoph nicht nur von einer „deskriptiven Methode“, sondern auch von einer „aus ihr hervorgegangenen apriorischen Wissenschaft“ schreibt.[126]
Apriorisch, das bedeutet so viel wie allein aus der Vernunft gewonnen, ausschließlich durch Denken gefunden und damit erfahrungsunabhängig, ohne jeglichen Bezug auf Erfahrung, damit aber auch auf unmittelbare Erkenntnis oder Wahrnehmung, rein durch logische Deduktion. Wie solche apriorischen Axiome aussehen können, skizziert Held in seiner Einleitung zu Husserl. Er spricht dort von der „Korrespondenz von Gegenstandsart und Gegebenheitsweise“, einem „Gesetz, das sich mit unbedingter Allgemeinheit vorab zu aller Erfahrung, also ‚apriori‘ formulieren lässt.“[127] Und auch Heidegger geht in „Sein und Zeit“ von notwendigen apriorischen Deduktionen aus: „Jedes Fragen ist ein Suchen. Jedes Suchen hat sein vorgängiges Geleit aus dem Gesuchten her … Fragen ist erkennendes Suchen des Seienden in seinem Da- und Sosein … Als Suchen bedarf das Fragen einer vorgängigen Leitung vom Gesuchten her. Der Sinn von Sein muss uns daher schon in gewisser Weise verfügbar seiin.“[128]
Das veranlasst Adorno, von neuartigen Ontologien zu sprechen, die abstrakter als jegliche neu-kantianische Methodologie[129] seien, von einer Hybris des Geistes.[130] Auch wenn man sich dieser Kritik nicht anschließen mag, bleibt unbestreitbar, dass ein erklatanter Widerspruch zwischen dieser Art einer „apriorischen“ Wissenschaft und der für die Phönomenologie geforderten Vorurteils-, Konzept-, Theoriefreiheit. Aporien eben!
Zu solchen unabgeleiteten, unhinterfragten Apriorismen, gehören im Grunde auch zwei häufig wiederkehrende, auf den ersten Blick unscheinbar wirkende Attribute, die zwar der Umwidmungswut entkommen, das allerdings nur um den Preis einer merkwürdigen Unbestimmtheit: „rein“ und „natürlich“. Hatten wir bei den bisherigen sprachlichen Umwidmungen aus Husserlscher oder Heideggerscher „Feder“ ein absichtsvolles Hinführen von den „Sachen“ zu den „Phänomenen“ vermutet, so scheint im Fall dieser beiden Attribute eine eher ideologiekritische Interpretation angesagt.
Beginnen wir mit „natürlich“. Husserl definiert den Begriff als Attribut zur Erkenntnis wie folgt[131]: „Natürliche Erkenntnis hebt an mit der Erfahrung und verbleibt in der Erfahrung“[132], eine Feststellung, aus der man schließen könnte, was nicht (!) natürlich ist – nämlich das, was weder in der sinnlichen Wahrnehmung, noch im verstehenden Denken beheimatet ist. Das hieße dann aber, dass „Erfahrung“ bei Husserl nicht so konnotiert wäre, wie wir das in den Überlegungen zum englischen „experience“ eingangs vermutet hatten. Wenn man, in gewisser Weise Merleau-Ponty folgend, den Fokus auf die Körperlichkeit legte, ergäbe sich eine Betrachtung, die – gemäß der modernen Neurowissenschaft – die körperliche (sinnliche) Wahrnehmung im so genannten limbischen Systems als „natürlich“ verstünde, während die verstehende Wahrnehmung, die auf der Basis im Neocortex abgespeicherter Modelle oder Simulationen erfolgt, eher zum Bereich des (theoretischen) Denkens gehörte.
Das aber widerspräche der Aussage Husserls, der die „ … Generalthesis der natürlichen Einstellung …“ als „ … ein Stück reiner Beschreibung vor aller ‚Theorie‘ (sieht). Theorien, das sagt hier Vormeinungen jeder Art …“[133] Sieht man einmal von der bizzarren Auffassung von Theorie ab – diese sollte ja keine Vormeinung vor Recherche und Theoriebildung, sondern eher deren Resultat sein –, so bleibt, dass „natürlich“ im Erkenntnisprozess all das ist, was noch mit Transzendentalem „belastet“ und nicht „rein“ ist, wie er in „Die Idee der Phänomenologie“[134] ausführt.
Ideologisch „rein“
Wesentlich üppiger kommt das zweite „ideologische“ Attribut Husserls in dessen Schriften zum Einsatz. „Rein“ sind für den Philosophen gleich eine ganze Menge verschiedenartigster Dinge, Sachen, Zustände oder sonstiger Phänomene. Er spricht vom „reinen Ich“[135], von der „puren (hier ausnahmsweise nicht „reinen“) Intuition“[136], vom „reinen Wesen“[137], von „Erlebnissen, rein ihrem Wesen nach“[138], von der „reinen Einzelheit der Wesen“[139], vom „reinen Bewusstsein“[140], von „reiner Erfahrung“[141] und „reiner Phänomenologie“[142], alternativ „phänomenologischer“[143] oder „eidetischer Reinheit“[144] und „reinen Phänomenen“[145], und dann wieder von „reiner Sachlichkeit der Forschung“[146]; Konkreta und Abstrakta in bunter Mischung.
Wen so viel Reinheit nicht gänzlich blendet, der könnte beispielsweise anfangen, sich zu fragen, worin denn die Reinheit des Ichs besteht, auf die man zu antworten versucht ist: „Der werfe den ersten Stein“. Wenn Reinheit, wie noch zu zeigen sein wird, für Phänomenologen das Resultat eines gedanklichen (eidetischen) Abstraktionsprozesses ist, dann muss auch klar sein, dass man sich, je weiter dieser voranschreitet, man sich umso mehr von jeglichem „Ich“ entfernt; bis zu dem Punkt, an welchem dem „Ich“ jegliche Subjektivität ausgetrieben und von ihm nichts mehr als eine leere Hülse übrig ist.
Wie bei der „Natürlichkeit“ drängt sich auch hier der Verdacht auf, dass die „Reinheit“ bei Husserl nur die Rolle einer emotional positiv besetzten Idenfikationsfigur spielt, der ein wenig mehr und klarere definitorische Bestimmung fehlt. Es ist wohl kein Zufall, dass man unter den Stichworten „rein“ oder „Reinheit“ bei Hegel[147] wenig bis nichts findet; die Begriffe waren dem Altmeister wohl zu irrelevant oder gar suspekt; wohl ebenfalls nicht zufällig zählten beide auch zu den präferierten Zielscheiben der Adornoschen Kritik.
Der sieht in der Husserlschen „Reinheit“ einen Rückfall ins Vor-Phänomenologische. „... und schließlich“, resümiert er, „ist die Ontologie reumütig, aber verschämt, zu ihm zurückgekehrt, indem sie ein Ritual des reinen Begriffs ausarbeitete, der leugnet, dass er einer ist.“[148] Schon bei seinen Betrachtungen zum Husserlschen „orignären“ Wesen hatte er analysiert, es handele sich da um „… reine … Denkformen, aus denen die Erinnerung ans Abstrahieren getilgt ward, als eigene ‚Wirklichkeit‘.“
Man ahnt, dass das unscheinbare „rein“, mehr noch als das offensichtlich ideologische „natürlich“, einiges auf dem Kerbholz hat, um es salopp auszudrücken. „Die Lossage vom Dasein verleiht der Husserlschen Lehre vom logischen Absolutismus weit größere Tragweite als die einer bloßen Spielart der Interpretation der formalen Logik. Die zu Sätzen an sich erhobenen logischen Axiome bieten das Modell der faktenfreien, reinen Wesenheiten, deren Begründung und Beschreibung die gesamte Phänomenologie sich als Aufgabe wählte und dem Begriff der Philosophie gleichsetzte … Die phänomenologische Reinheit, idiosynkratisch gegen alle Berührung mit Faktischem, bleibt doch hinfällig wie ein Blumenornament. Wesen war das Lieblingswort des Jugendstils für die schwindsüchtige Seele, deren metaphysischer Glanz einzig dem Nichts, der Abkehr vom Dasein entspringt. Ihre Schwestern sind die Husserlschen Wesenheiten, phantasmagorische Spiegelungen einer Subjektivität, die in ihnen, als ihrem ‚Sinn‘, zu erlöschen hofft“[149], schreibt Adorno.
Husserls Ideal, so der Mitgründer der Frankfurter Schule, „Husserls Modell auf allen Stufen ist die Mathematik“, also gerade die ultimative Abstraktion alles Wahrgenommenen oder Erfahrenen, die „der Form nach das gesamte Denken Husserls bis zum Ende (durchherscht), auch dort noch, wo er sich nicht mehr bei der ‚Klärung‘ der Logik bescheidet, sondern es auf die Kritik der logischen Vernunft abgesehen hat. Mag immer der Husserl der phänomenologischen Reduktionen die natürlilche Dingwelt ‚ausgeklammert‘[150] haben, sein Philosophieren selber hat nie anders sich bestimmt, denn nach der Form eines sublimierten Auffassens von Dinghaftem, wie es im Verhältnis des Bewusstseins zur Einsicht in mathematische ‚Sachverhalte‘ vorgezeichnet ist.“ Die Frage, was diese Sublimation oder Abstraktion noch mit einer „rein deskriptiven“[151] Philosophie oder philosophischen Methode zu tun hat, bliebe zu beantworten.
Rückwärts voran zur Ontologie
Zum Thema der „ideologischen“ Begrifflichkeiten, sind an dieser Stelle noch mindestens zwei weitere zu nennen, bei denen man sich wundert, wie widerspruchslos der eine oder andere phänomenologische Ethnologe sie zu schlucken scheint. Die eine ist das attribut „universal“[152], das im Zusammenhang mit kulturellen Betrachtungen spätestens seit der Eurozentrismusdebatte der letzten Jahrzehnte auf den Index gehören oder zumindest entsprechend markiert werden sollte[153]. Die zweite sind die wohl aus der Psychologie entlehnten „Störungen“ , von denen Heidegger drei unterschiedliche diagnostiziert, mithilfe derer sich die Unbrauchbarkeit bzw. die „Zuhandenheit von Zeug auf besondere Art und Weise offenbaren“ [154] könne: Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit[155], listet er auf, was in kritischen Ohren weniger wie Philosophie, denn wie ein Pädagogie-Kompendium für den Umgang mit Schwererziehbaren aus dem so genannten „Dritten Reich“ klingen könnte. Ein Zufall, dass Heidegger von 1933 bis 1945 in Hitlers NSDAP beheimatet war?
Aber zurück zu des Pudels Kern. Die Ontologie sei zu Husserl zurückgekehrt, befand Adorno, was man durch die Feststellung ergänzen könnte, bei Heidegger sei sie nie abwesend, immer präsent gewesen. Denn auch wenn es häufig anders kolportiert wird, im Zentrum der Phänomenologie stehen nicht nur Wahrnehmung und Beschreibung, sondern vor allem Wesen und Sein, und beider Sinn. Die Rede war von diesen Begrifflichkeiten bereits mehrfach; ihre Bedeutung rückt im nächsten Kapitel in den Fokus der Betrachtungen.
II – Wesen, Sinn und Sein
Bisher ging es in diesem Essay vor allem um die erkenntnistheoretischen Aspekte der Phänomenologie; um Sachen und Phänomene, Wahrnehmung und Erkenntnis, Apriorisches und Intentionales. Das aber ist nur eine Seite der Medaille; die Sachen, zu denen es zurück gehen soll, sind nicht die letzte Instanz der Erkenntnis(prozesse). Vom Hin und Her zwischen Erkenntnistheorie und Ontologie war bereits die Rede, von Adorno wurden Aussagen über eine ontologische Endphase der Phänomenologie zitiert, und dass Ontologisches in Heideggers „Sein und Zeit“ augenfälliger ist als bei Husserl, ergibt sich schon aus diesem Titel seines Hauptwerks.
Natürlich ist das Verhältnis von Erkenntnistheorie und Ontologie keines von „entweder – oder“ – nicht in der klassischen (metaphysischen) Philosophie und nicht in den anti-metaphysischen Versuchen der Husserl & Co. Sie gehören zueinander wie Hammer und Nagel, wie Licht und Schatten, da beide sich in Sachen Welt- und Realitätserkenntnis bemühen, und das ist ein Ansatz den in gewissser Weise auch die Phänomenologie verfolgt, für die allerdings nur die wahrgenommene Realität zählt. Dabei wird häufig die Erkenntnistheorie als Voraussetzung der Ontologie betrachtet, aber, wie der Philosoph Karl Bärthlein (1929-1989) schreibt, ist es schwierig, der Ontologie mit ihrem Universalitätsanspruch „eine Erkenntnistheorie vorzuordnen.“[156]
Das Missverständnis, die Phänomenologie als empiristische Erkenntnistheorie zu betrachten, wurde bereits gesagt und wird im vorletzten Kapitel bei der Betrachtung der phänomenlogisch orientierten Ethnologie noch einmal aufgegriffen werden. Dass hinter den erkenntnistheoretischen Aspekten der Philosophie auch ein umfassender ontologischer Ansatz steckt, wird häufig, ist dabei aber eigentlich kaum zu übersehen. Nicht umsonst sprich Heidegger wiederholt von der Phänomenologie als einer Fundamentalontologie: „„Wissenschaften sind Seinsweisen des Daseins, in denen es sich auch zu Seiendem verhält, das es nicht selbst zu sein braucht. Zum Dasein gehört aber wesenhaft: Sein in einer Welt … Die Ontologien, die Seiendes von nicht daseinsmäßigem Seinscharakter zum Thema haben, sind demnach in der ontischen Struktur des Daseins selbst fundiert und motiviert, die die Bestimmtheit eines vorontologischen Seinsverständnisses in sich begreift. Daher muss die Fundamentalontologie, aus der alle andern erst entspringen können, in der existenzialen Analytik des Daseins gesucht werden.[157]
Tatsache ist, dass, auch wenn man das Epistemologische nicht als Voraussetzung des Ontologischen betrachtet, die phänomenologische „Erkenntnistheorie“, die Seite, die sich mit dem Wahrnehmen und dem Begreifen beschäftigt, ohne die dazugehörigen ontologischen Aspekte kaum zu verstehen ist. Mehr noch, es geht um deutlich mehr, als um Wahrnehmung und Erfahrung: „All die Wesenscharakteristiken von Erlebnis und Bewusstsein, die wir gewonnen haben, sind für uns notwendige Unterstufen für die Erreichung des uns beständig leitenden Zieles, nämlich für die Gewinnung des Wesens jenes ‚reinen Bewusstseins‘ mit dem sich das phänomenologische Feld bestimmen soll.“[158]
Es geht also um das Wesen der Sachen und Phänomene, nicht nur um deren deskriptiv zu erfassende Eigenschaften. Die Frage nach diesem Wesen, das in der klassischen Metaphysik hinter den Erscheinungen liegt[159], ist die zentrale ontologische Frage Husserls, der dieses Wesen als genauso „originär“ definiert wie die Sachen und Phänomene selbst, während Heidegger, bei dem sich alles um das „Sein“ (altgriechisch τὸ ὄν, to on) schlechthin und um dessen „Sinn“ dreht, seine Problemebene eher wie die der klassischen Metaphysik bestimmt: „Mit der vorläufigen Charakteristik des thematischen Gegenstandes der Untersuchung (Sein des Seienden, bzw. Sinn des Seins überhaupt) scheint auch schon ihre Methode vorgezeichnet zu sein.“[160]
Bei Hegel war die Frage nach Wesen und Erscheinung, anders als bei Husserl, bei dem sie der von der Henne und dem Ei ähnelt – Sachen und Wesen sind gleichermaßen „originär“ –, noch klarer geregelt. Das Wesen war ihm „das Abstrakte“[161], das „absolute Wesen … alle Wirklichkeit“[162]. Es war damit die letzte und erste Stufe zugleich in der Doppelbewegung der Betrachtung, die er vor allem in seiner „Phänomenologie des Geistes“ ausführt. Die schreitet zum einen vom Konkreten zum Abstrakten, dann wieder vom Abstrakten zum Konkreten fort – einmal, wenn man so will, in erkenntnistheoretischer, dann wieder in logischer Perspektive. Auf keinen Fall aber können Konkreta und Abstrakta bei ihm in identischer Weise „originär“, also gleichermaßen „ursprünglich“ sein, wie dies Husserl postuliert, wenn er von „in unmittelbarer Einsicht zu erfassende(n) Wesensverhalte(n) schreibt.[163] Und, anders als bei Husserl, bei dem das Wesen Resultat einer reinen Denkbewegung ist – die so genannte „Reduktion“ wird noch Gegenstand der Betrachtung sein – hat das Wesen bei Hegel ein gewisses, zumindest metaphysisches Eigenleben. Das man kritisieren oder, wie Friedrich Engels (1820-1895) es dem jungen Karl Marx (1818-1883) attestierte, vom Kopf auf die Füße stellen kann.[164]
Wesen und Gestalt
Husserl führt sein „Wesen“ allerdings nicht als solches ein, sondern bedient sich wieder eines jener sprachlichen Kunstgriffe, die wir bereits kennengelernt haben. Er spricht von „eidos“, was er mit „reines Wesen“[165] übersetzt, und von „eidetischen“ (wesenhaften) Axiomen[166], Wissenschaften[167], Erkenntnissen[168]. Das altgriechische „εἶδος“, „eîdos“, steht nun allerdings gar nicht für Wesen, sondern für „das zu Sehende“, „Gestalt“, „Form“, „Aussehen“, „Bild“ oder auch – etwa bei Platon – für „Idee“, sozusagen als „Antipode“ zur aristotelischen Materie (ὕλη, hyle), während als „Wesen“ im Altgriechischen „οὐσία“ („ousia“) gilt, was auch mit „Seiendheit“ oder „Substanz“ übersetzt wird. Wohl nicht ganz zufällig ist die „Eidetik“ ja die Wissenschaft des Gesehenen.
Wie in den zuvor diskutierten Fällen ist auch in diesem nur schwer vorstellbar, dass dahinter nur Zufall, Willkür oder gar Ignoranz stecken könnten, zumal von einem solchen „eidos“ etwa bei Hegel, der sich ja breit über „Wesen“ und „Gestalt“[169] auslässt, in der 20-bändigen Werkausgabe keine Spur zu finden ist, glaubt man dem Schlagwortregister[170]. Vielmehr ist zu vermuten, dass mithilfe dieser „Gleichsetzung“ voon Gestalt und Wesen der phänomenologische Anspruch untermauert werden soll, nach dem „die Sachen“ bzw. die „Phänomene“ einerseits und „das Wesen“ andererseits in erkenntnistheoretischer Perspektive gleichermaßen „originär“ sein sollen.
Schauen wir uns dieses „eidos“-Wesen einmal genauer an: „Zunächst bezeichnete ‚Wesen‘ das im selbsteigenen Sein eines Individuum(s) als sein Was Vorfindliche“[171], womit Husserl den Hegelschen „Allgemeinen“ oder auch seiner „Substanz“ nahe kommt. Das schon würde allerdings die Aussage „Das Wesen (Eidos) ist ein neuartiger Gegenstand“[172] deutlich relativieren. Wirklich auffällig sind dann Feststellungen zum Verhältnis zwischen „Sachen“ und „Wesen“: „Das Eidos, das reine Wesen, kann sich intuitiv in Erfahrungsgegebenheiten, in solchen der Wahrnehmung, Erinnerung usw., exemplifizieren, ebenso gut aber auch in bloßen Phantasiebegebenheiten. Demgemäß können wir, ein Wesen selbst und originär zu erfassen, von entsprechenden erfahrenden Anschauungen ausgehen, ebensowohl aber auch von nicht-erfahrenden, nicht-daseinerfassenden, vielmehr ‚bloß einbildenden‘ Anschauungen.“[173] Was dann bedeutete, das Wesen könne sich in Erfahrungsgegebenheiten „exemplifizieren“?
In die selbe Richtung deutet eine andere der Husserlschen Aussagen: „Der als wirklich gesetzte Sachverhalt ist dann Tatsache, sofern er individueller Wirklichkeitsverhalt ist, er ist aber eidetische Notwendigkeit, sofern er Vereinzelung einer Wesensallgemeinheit ist.“[174] Und wenig später heißt es dann: „… jedem individuellen Gegenstand … (gehört) … ein Wesensbestand (zu) als sein Wesen, wie umgekehrt jedem Wesen mögliche Individuen entsprechen, die seine faktischen Vereinzelungen wären, …“[175]
Jetzt ist die Tatsache plötzlich alles andere als „originär“; statt dessen ist sie nur noch „Vereinzelung einer Wesensallgemeinheit“, was nicht nur der Hegelschen Metaphysik, in der sich der Begriff in die Welt entäußert, verdächtig nahe kommt, sondern auch den noch zu analysierenden Begriff der „Reduktion“ in Frage stellt. Aber dazu später mehr, für den Moment reicht es, festzustellen, dass es jetzt statt „Zurück zu den Sachen“ wohl eher „back to metaphysics“ heißt. Husserls Anti-Idealismus stellt sich selbst in Frage, woran auch die Tatsache nichts ändert, dass er wenig später die „in unmittelbarer Einsicht zu erfassenden Wesensverhalte“[176] wieder aus der Schublade holt. Widersprüche, wo man hinschaut, in denen sich der vorgebliche Anti-Idealismus der Phänomenologie fast rückstandslos auflöst[177], was Husserl auch ganz explizit zu Protokoll gibt: „Jede Tatsachenwissenschaft (Erfahrungswissenschaft) hat wesentliche theoretische Fundamente in eidetischen Ontologien.“[178]
Das Schwelgen in ontologischen Abstraktionsfiguren findet auch in erkenntnistheoretischer Perspektive seinen Fortgang: „Wir folgen unserem allgemeinen Prinzip, dass jedes individuelle Vorkommnis sein Wesen hat, das in eidetischer Reinheit fassbar ist …“ und „(wir) fixieren .. in adäquater Ideation die reinen Wesen, die uns interessieren. Die singulären Fakta, die Faktizität der natürlichen Welt überhaupt, entschwindet dabei unserem theoretischen Blicke – wie überall, wo wir rein eidetische Forschung vollziehen.“[179] Und das alles ist theorie- und vormeinungslose Phänomenologie, bleibt da als unbeantwortete, im Rahmen der Husserlschen Philosophie unbeantwortbare Frage offen. Der Anti-Idealismus war nur Fassade; in Wahrheit hat die Metaphysik Husserl wohl immer fest im Griff gehabt – und seinen Schüler und Kollegen Heidegger gleich mit ihm.
Vom „eidos“ zum Sein
Während sich bei Husserl das Ontologische sozusagen von hinten über seine epistemologischen „Sachen“ und „Phänomene“ stülpt, marschiert Heidegger schnustraks auf die Ontologie, die Lehre vom Sein oder der Seinslogik zu. Das verrät, darauf wurde bereits hingewiesen, schon der Titel „Sein und Zeit“. Erst von dort kommt Heidegger auf die Sachen und Phänomene zurück. Wo Husserl die Sachen und Phänomene apriorisch, eher sogar apodiktisch und per Definition (und Umwidmung) setzt, nimmt Heidegger den Umweg über die ontologisch daherkommende Frage nach dem Sinn des Seins, um zu ihnen zu gelangen. Überflüssig zu betonen, dass so etwas wie der „Sinn“, der „Sinn des Sinns“ oder der „Sinn des Seins“ etwa bei Hegel nur marginalen Stellenwert haben.[180]
Heidegger lässt sich dann nicht lange bitten und eröffnet seinen Diskurs mit der Frage, „Haben wir heute eine Antwort auf die Frage nach dem, was wir mit dem Wort ‚seiend‘ eigentlich meinen?“, auf die er die Anwort gleich mitliefert: „Keineswegs. Und so gilt es denn, die Frage nach dem Sinn von Sein erneut zu stellen. Sind wir denn heute auch nur in der Verlegenheit, den Ausdruck ‚Sein‘ nicht zu verstehen Keineswegs. Und so gilt es denn vordem, allererst wieder ein Verständnis für den Sinn dieser Frage zu wecken.“[181] Verständnis erwecken für den Sinn der Frage nach dem Sinn? Das klingt erneut sehr tautologisch, ein wenig wie Husserls zitierter Versuch, die Evidenz über die Evidenz zu bestimmen. Sollten nicht solcherart Eingangsfragen der philosophischen Betrachtung selbsterklärend sein, weil sonst das Risiko besteht, sich ständig im Kreise der sich nur gegenseitig stützenden Definitionen zu drehen? Ganz wie die zitierte Henne und das Ei?
Nun könnte man nicht nur die Frage nach dem Sinn des Sinns, sondern auch die nach dem Sinn des Seins hinterfragen. Dazu müsste man aber, will man nicht auf Anworten aus dem Bereich religiöser Überlegungen ausweichen, erst einmal akzeptieren, dass es eine Welt gibt, die mitsamt ihrer Genese unabhängig von unseren Wahrnehmungen und Sinnvorstellungen (und unserer alles wissenden Hybris) existiert. Was den Phänomenologen, wie zu sehen war, offenbar schwerfällt.
Statt dessen betont Heidegger: „Mit der leitenden Frage nach dem Sinn des Seins steht die Untersuchung bei der Fundamentalfrage der Philosophie überhaupt. Die Behandlungsart dieser Frage ist die phänomenologische.“[182] … und weicht ihrer Beantwortung mit einem Rekurs auf die epistemologische Ebene auch gleich erst einmal aus: „Der Ausdruck ‚Phänomenologie‘ bedeutet primär einen Methodenbegriff.“ „Je echter ein Methodenbegriff sich auswirkt und je umfassender er den Duktus einer Wissenschaft bestimmt, umso ursprünglicher ist er in der Auseinandersetzung mit den Sachen selbst verwurzelt, umso weiter entfernt er sich von dem, was wir einen technischen Handgriff nennen … Der Titel ‚Phänomenologie‘ drückt eine Maxime aus, die also formuliert werden kann: ‚zu den Sachen selbst!‘ - … entgegen der Übernahme von nur scheinbar ‚ausgewiesenen‘ Begriffen …“[183] Womit die ontologische Fragestellung erfolgreich in einer erkenntnistheoretischen und in der „alten“ Maxime Husserls versteckt wäre.
Adorno ist bezüglich der Frage nach dem Sinn des Seins bei Heidegger ziemlich kategorisch: „Insofern ist er Nachfahre der deduktiven Systeme. Deren Geschichte schon ist reich an Begriffen, die vom gedanklichen Fortgang gezeitigt werden, auch wenn kein Zeigefinger auf den Sachverhalt sich legen läßt, der ihnen entspräche.“[184] Und weiter: „Die Seinsphilosophie scheitert, sobald sie im Sein einen Sinn reklamiert, den nach ihrem eigenen Zeugnis jenes Denken auflöste, dem noch Sein selber als begriffliche Reflexion verhaftet ist, seitdem es gedacht wird. Die Sinnlosigkeit des Wortes Sein … ist nicht einem zu wenig Denken oder einem unverantwortlichen Drauflosdenken aufzubürden. In ihr schlägt die Unmögilchkeit sich nieder, positiven Sinn durch den Gedanken zu ergreifen oder zu erzeugen, der das Medium der objektiven Verflüchtigung von Sinn war. Sucht man die Heideggersche Unterscheidung des Seiins von seinem umfangslogischen Begriff zu vollziehen, so behält man, nach Abzug des Seienden ebenso wie der Abstraktionskategorien, eine Unbekannte in Händen, die nichts voraushat vor dem Kantischen Begriff des transzendenten Dinges an sich als das Pathos seiner Invokation. Dadurch jedoch wird auch das Wort Denken, auf das Heidegger nicht verzichten mag, so inhaltslos wie das zu Denkende: Denken ohne Begriff ist keines.“[185]
Dunkle Begriffe
Ein wenig scheint sich Heidegger dieses Dilemmas bewusst gewesen zu sein, wenn er feststellt: „Wenn man demnach sagt: ‚Sein‘ ist der allgemeinste Begriff, so kann das nicht heißen, er ist der klarste und aller weiteren Erörterung unbedürftig. Der Begriff des ‚Seins‘ ist vielmehr der dunkelste.“[186] Und weiter: „‚Sein‘ kann … nicht als Seiendes begriffen werden …., nicht zur Bestimmteit kommen, dass ihm Seiendes zugesprochen wird … ‚Sein‘ ist nicht so etwas wie Seiendes … Allein diese durchschnittliche Verständlichkeit demonstriert nur die Unverständlichkeit … der Sinn von Sein (ist) … in Dunkel gehüllt …“ Eine Sicht, die bei Hegel und seiner Positionierung des Seins als höchster Stufe der Abstraktion (Bestimmungslosigkeit) innerhalb seiner Logik – in dieser Qualität deshalb auch identisch mit dem Nichts – undenkbar wäre. Und wenn es mit „Sein und Zeit“ darum geht, das „Vergessen“ der Zeit (bei der Bestimmung des Seins) durch die klassische Philosophie zu „reparieren“, dann betrifft dies mit Sicherheit Hegel nicht, denn dessen „Sein“ ist als die absolute Abstraktion von allem Gegenständlichen und von allem Immateriellen weit entfernt von Raum und Zeit gleichermaßen.
Wenn Heideggers „Sein“ nicht mit Hegels abstraktesten, bestimmungslosesten Begriff des logischen Systems vergleichbar ist, dann ist er aber genauso wenig mit dem Husserlschen „eidos“ identisch, jenem „Wesen“, das zwar einerseits Resultat des Abstraktions-/Reduktionsprozesses, aber andererseits auch „originär“ wie das Resultat der unmittelbaren, d. h. sinnlichen Wahrnehmung sein soll. Das Heideggersche „Sein“ wird gerne als das beschrieben, das allen (oder allem) Seienden gemein ist, wobei die Bestimmung in dieser Beschreibung nicht gesetzt, sodern nur von einer Definition auf die nächste, ähnlich unbefriedigende verschoben ist. „‘Sein‘ ist nicht so etwas wie Seiendes“[187], schreibt Heidegger, was allerdings nicht „von der Frage nach seinem Sinn“[188] dispensiert. Die gehört schließlich zu den Grundfragen der Phänomenologie.
Nun dreht sich zwar in Heideggers „Sein und Zeit“ alles zumindest anfänglich um das „Sein“, aber als wichtigere Kategorie seiner Phänomenologie wird häufig das „Dasein“ genannt. Heideggers Einführung des neuen Begriffs lautet: „Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, dass es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“[189], und weiter schreibt er: „Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält, nennen wir Existenz.“[190] Dass das nicht wirklich zur eingeführten Bestimmung des „Seins“ past, wird beim genaueren Hinschauen deutlich. Da entdeckt man dann, dass es bei Heidegger nicht etwa nur ein „Sein“ gibt, sondern deren zwei – ein ontologisches, das „Sein des Seins“, und ein ontisches, das „Sein der Seienden“ –; eine Begriffsverdopplung von der Art, wie sie noch häufiger auch bei Husserl anzutreffen ist.
Das erwähnte „Vergessen“ der Zeit übrigens, das Heidegger in seiner „Fundamentalontologie“[191] aufheben will, könnte, wollte man „Raum“ und „Zeit“ als tatsächlich und unabhängig von der menschlichen Erfahrung existierende Entitäten begreifen, im Grunde ja gar nicht dem „Sein“, egal ob ontisch oder ontologisch zugerechnet werden, hätte Heidegger nicht das Dasein so eng an das menschliche Subjekt gebunden, was sich allerdings auch wieder widersprüchlich liest. „Dasein“ bezeichnet da nämlich einerseits schlechthin alles Seiende, wenn er schreibt: „Seiendes ist alles, wovon wir reden, wozu wir uns so und so verhalten, seiend ist auch, was und wie wir selbst sind. Sein liegt im Dass- und Sosein, in Realität, Vorhandenheit, Bestand, Geltung. Dasein, im ‚es gibt‘“[192], nur um dann wieder ausdrücklich nicht jedes beliebige „Seiende“, sondern nur das, „das je ich selbst bin“[193], also den Menschen als „Dasein“ – nicht „im Dasein“, sondern ausdrücklich als „das Dasein“ – zu bezeichnen: „Dasein ist Seiendes, das sich in seinem Sein verstehend zu diesem Sein verhält.“[194]
Diese Unklarheit könnte daher rühren, dass Heidegger, wie vor ihm schon in gewisser Weise Husserl,[195] das Subjekt-(Mensch)Dasein nicht einfach als wahrnehmendes Bewusstsein von Sachen (oder Phänomenen) der Welt, sondern als tranzendentales, die Erfahrung überschreitendes sprich ontologisches versteht, die Welt nicht als die empirische Welt, sondern als transzendetale Bestimmung des Daseins.
Heidegger geht dabei weiter als Husserl. Er belässt es nicht dabei, das Dasein als den Menschen, als im Unterschied zu den Dingen/Sachen ausschließlich menschliches Dasein zu definieren, er stattet es/ihn auch mit einer „Grundverfassung“ aus, wenn er vom „In-der-Welt-sein überhaupt als Grundverfassung des Daseins“[196] spricht: „Diese Seinsbestimmungen des Daseins müssen nun aber a priori auf dem Grunde der Seinsverfassung gesehen und verstanden werden, die wir das In-der-Welt-sein nennen.“[197] Das „In-der-Welt-sein“, schränkt Heidegger allerdings sogleich wieder ein, darf nicht „gedacht werden (als) … das Vorhandenseins eines Körperdinges (Menschenleib) ‚in‘ einem vorhandenen Seienden. Das In-Sein meint so wenig ein räumliches ‚Ineinander‘ Vorhandensein, als ‚in‘ ursprüngllich gar nicht eine räumliche Beziehung der genannten Art bedeutet …“[198]
Bindestrichphilosophie
An dieser Stelle interessiert uns nicht die sprachliche Ebene, und wir lassen die sinnbefreite, manieristisch wirkende Flut von Begriffbildungen per Bindestrich einmal außen vor. Wichtiger ist, was sich hinter ihnen verbirgt. Dabei ist – aus der ethnologischen wie der im letzten Kapitel aufgerufenen politischen Perspektive – vor allem das „In-der-Welt-sein“ interessant, das Heidegger wie folgt einführt: „In-sein ist … der formale existenziale Ausdruck des Seins des Daseins, das die wesenhafte Verfassung des In-der-Welt-seins hat. Das ‚Sein bei‘ der Welt in dem … Sinne des Aufgehens in der Welt ist ein im In-Sein fundiertes Existenzial“[199], ergo ein Wesensmerkmal des menschlichen Seins im Unterschied zu den Kategorien, die er für die nicht-menschliche Welt vorhält. Damit hat er eine konsequent klingende Stufenfolge vom menschlichen Dasein über das „In-sein“ bis hin zum „bei der Welt“ geschaffen, d. h. zum letztlich passiven, unselbständigen Subjekt – wenn dieser Begriff überhaupt angebracht ist, da dem menschlichen Dasein ja die eigentliche, menschliche Subjekteigenschaft genommen wurde.
Die Konsequenz, der Schlusspunkt des ganzen Konstrukts ist in gewisser Weise die „Geworfenheit“, mit der Heidegger letztlich die gesamte menschliche Existenz qualifiziert: „Die Geworfenheit aber ist die Seinsart eines Seienden, das je seine Möglichkeiten selbst ist, so zwar, dass es sich in und aus ihnen versteht (auf sie sich entwirft). [...] Das Selbst aber ist zunächst und zumeist uneigentlich, das Man-selbst. Das In-der-Welt-sein ist immer schon verfallen. Die durchschnittliche Alltäglichkeit des Daseins kann demnach bestimmt werden als das verfallend-erschlossene, geworfen-entwerfende In-der-Welt-sein, dem es in seinem Sein bei der Welt und im Mitsein mit anderen um das eigenste Seinkönnen selbst geht.“[200]
In diesem, unzweifelhaft apologetischen Begriff – in ihm stecken Unausweichlichkeit, Willkür, Intransparenz, letztlich auch eine morbide Teleologie – kulminiert damit das gesamte Heideggersche Elaborat von mehr oder weniger nachvollziebaren Bestimmungen und Definitionen. Es zeichnet den Menschen als Existenz „zun Tode“ aus, eine Bestimmung, gegen die Heidegger keinen Rekurs und keine Berufung zulässt. Die Geworfenheit zum Tode ist praktisch von Anbeginn das teleologische Schicksal des Daseins, indem dieses Dasein sofort die Frage nach dem Sinn des Seins aufwirft, die mit In-der-Welt-sein und dem Sein zum Tode beantwortet wird oder zumindest werden soll.
Zu diesem Schluss kommt es, weil Heidegger, anders als Hegel, dessen Philosophie zwischen Phänomenologie und Logik unterscheidet, eine solche, saubere Trennung nicht kennt und nicht vornimmt. Dieselbe mangelhafte Unterscheidung findet sich auch bei Husserl, bei dem Waldenfels, der von einer „eidetischen Differenz von Tatsache und Wesen“ spricht, sie sogar „als Stärke … (des) Vorhabens“ definiert, welche darin liege, „dass … keiner fertigen Idealiltät das Wort geredet …“ werde[201], der dabei allerdings nicht zur selben Todessehnsucht gelangt, wie Schüler, Kollege und Nachfolger[202] Heidegger – von Merleau-Ponty oder Jean-Paul Sartre (1905-1980) und ihrem im Grunde lebensbejahenden Existenzialismus ganz zu schweigen.
Nach dieser Betrachtung der phänomenologischen Ontologie Husserls und Heideggers kommen wir auf das eigentliche Ziel dieses Essays zurück: die jüngsten Versuche einer Nutzbarmachung der phänomenologischen Methode für die Ethnologie. Von dieser Methode, mit Husserl auch als Eidetik bezeichnet, war bisher nur am Rande die Rede, obwohl Husserl sie, wie eingangs zitiert, als Basis seiner phänomenologischen Wissenschaft betrachtet. Es ist Zeit, genauer hinzuschauen.
III – Zurück zu den Sachen: mit Methode
Dass die Phänomenologie nicht nur eine wie immer geartete (erkenntnistheoretische) „Methode“ ist, die man auf x-beliebige Wissenschaften „anwenden“ kann, sondern ein philosophisches System mit verschiedenartigsten Ausprägungen und Varianten, die es teilweise schwer machen, hinter ihnen einen gemeinsamen Nenner zu entdecken, war Gegenstand der vorangegangenen Kapitel. Dabei haben die Phänomenologen selbst dafür gesorgt, dass sich diese Klassifizierung ihrer Theorie als Methode verbreiten konnte.
Die falsche Fährte in Richtung „Methode“ wurde zuallererst von Husserl selbst im bereits zitierten Artikel für die Encyclopaedia Britannica[203] gelegt, und auch was die „Anwendbarbeit“ in den verschiedenen Wissenschaften außerhalb der Philosophie betrifft, hat der Philosoph im letzten Teil der zitierten Passage - „… in konsequenter Auswirkung eine methodische Reform aller Wissenschaften zu ermöglichen …“ dies in gewisser Weise selbst für seine Phänomenologie reklamiert. Dass die von Held herausgegebene Essaysammlung den Titel „Die phänomenologische Methode“ trägt, hat dann leider auch nicht für allzu viel Klarheit in dieser Frage gesorgt, was aber nicht Husserl selbst anzukreiden ist, dessen Ártikel in dieser Sammlung ganz andere Überschriften tragen: etwa „Tatsache und Wesen“, „Die phänomenologische Fundamentalbetrachtung“ oder „Widerlegung des Psychologismus“[204]. Der Fokus auf der Methode ist dabei wohl hauptsächlich der Tatsache geschuldet, dass Husserl sich immer und vor allem von der metaphysischen klassischen Philosophie abzugrenzen suchte.
Auf der anderen Seite schreibt der Philosoph ausführlich und ganz konkret über das, was er für die eigentlichen Methoden – Methoden, nicht Methode – seines philosophischen Systems hält, nämlich etwa die „Epoché“ (Betonung in Abgrenzung zur Epóche, der [geistes]geschichtlichen Periode, auf dem letzten „e“) und die (eidetische) Reduktion. Beide stehen im Zentrum dieses und auch teilweise noch des nachfolgenden Kapitels. Dabei wird sich auch zeigen, dass diese Methoden, beraubt man sie ihres ontologischen Kontexts, alles Phänomenologische und damit ihren eigentlichen Inhalt verlieren und zu ziemlich banal klingenden, letztendlich auch in sich widersprüchlichen und gerade für die Ethnologie nicht wirklich brauchbaren oder zumindest weiterhelfenden „Bedienungsanleitungen“ werden.
Dabei muss gleich zu Anfang eine Einschränkung gemacht werden: Eigentlich ist nämlich vor allem die Reduktion, genauer der Prozess wiederholter Reduktionen, eine „anwendbare“ Methode, die „Epoché“ könnte man, obwohl Husserl sie explizit als Methode bezeichnet[205] eher als deren Voraussetzung, als eine Art geistiger Haltung[206] bei der Durchführung der Reduktion sehen, als deren Bestandteil, in Form eines Schritts oder einer Stufe Husserl sie denn auch identifiziert[207].
Epochales Einklammern
Die aus dem Altgriechischen entlehnte „Epoché“ (altgriechisch ἐποχή, Haltepunkt, Zurückhaltung, von ἐπέχειν, epéchein anhalten, zurückhalten, im Neugriechischen eher Zeitalter, Zeit), von Husserl als „Einklammerung“ oder „Ausschalten“[208] definiert, das er als phänomenologische Antwort auf den „universellen Zweifelsversuch“ des französischen Philosophen René Descartes (1596-1650) versteht, bedeutet für den Phänomenologen: „Alle auf diese natürliche Welt bezüglichen Wissenschaften, so fest sie mir stehen, so sehr ich sie bewundere, so wenig ich daran denke, das mindeste gegen sie einzuwenden, schalte ich aus, ich mache von ihren Geltungen absolut keinen Gebrauch. Keinen einzigen der in sie hineingehörigen Sätze, und seien sie von vollkommener Evidenz, mache ich mir zu eigen“[209], und präzisiert: „Ich darf ihn nur annehmen, nachdem ich ihm die Klammer erteilt habe.“[210] Es ist, anders als im Skeptizismus kein absolutes Zweifeln an der Wirklichkeit, sondern nur ein Einklammern, wodurch „ … die wirklich erfahrene, sich im Zusammenhange der Erfahrungen klar ausweisende (Welt)“ „ungeprüft, aber auch unbestritten“[211] „rein“, d. h. ohne Vorurteile oder Vormeinungen und ohne Transzendentales wahrnehmbar werden soll.
Zur Notwendigkeit des Zweifelns (und des Einklammerns) kommt Husserl über die Schhwierigkeiten, die das „natürliche“ Denken nicht lösen kann[212]. „Mit dem Erwachen der Reflexion über das Verhältnis von Erkenntnis und Gegenstand tun sich abgrundtiefe Schwierigkeiten auf. Die Erkenntnis, im natürlichen Denken die allerselbstverständlichste Sache, steht mit einem Mal als Mysterium da“[213], was neue Fragen aufwirft: „Wie kann nun aber die Erkenntnis ihrer Übereinstimmung mit den erkannten Objekten gewiss werden, wie kann sie über sich hinaus und ihre Objekte zuverlässig treffen?“[214] „Woher weiß ich, der Erkennende, und kann ich je zuverlässig wissen, dass nicht nur meine Erlebnisse diese Erkenntnisakte sind, sondern auch dass ist, was sie erkennen, ja dass überhaupt irgend etwas ist, das als Objekt der Erkenntnis gegenüberzusetzen wäre?“[215] Selbst „… die reale Bedeutung der logischen Gesetzlichkeit, die für das natürliche Denken außer aller Frage steht, wird nun fraglich und selbst zweifelhaft.“[216]
Es ergibt sich die Notwendigkeit, diese Mysterien der Erkenntniskritik aufzulösen. Den Anfang macht dabei, „das In-Frage-stellen jeglichen Wissens“[217], wobei sich die Schwierigkeit auftut, dass „nichts als vorgegeben“[218] vorausgesetzt werden darf, wie wir bereits aus der Betrachtung der „Epoché“ gelernt haben, „… nichts von der Unklarheit und Zweifelhaftigkeit …, die Erkenntnissen sonst den Charakter des Rätselhaften, Problematischen verleihen.“[219] Es ist, wie gezeigt, das Transzendentale der „natürlichen“ Erfahrung, die konsequenterweise ausgeklammert werden muss.
Als Haltung, als eine Art erkentnistheoretischer oder auch moralischer Anspruch ist dieses Aus- bzw. Einklammern von und damit aus der „reinen Wissenschaft“ und dem „reinen Bewusstsein“ ausgeschalteten „Vormeinungen“, sprich vorgefassten Konzepten und Begrifflichkeiten, ist diese „Epoché“ durchaus verständlich und nachvollziehbar. Wie sie praktisch vonstatten gehen soll oder ob solch ein „Ausschalten“ etwa im Lichte der bereits erwähnten neurowissenschaftlichen Forschungen überhaupt möglich ist, auf diese Frage bleibt die Phänomenologie die Antwort weitestgehend schuldig. Erfolgversprechender scheint da der Ansatz aus dem bereits erwähnten Essay „Fremder, Quo Vadis“[220], der für die Ethnologie darin besteht, sich „Vormeinungen“, d. h. kulturell geprägte, eurozentristische Prägungen des eigenen Denkens immer bewusst zu halten und im Erkenntnisprozess bzw. in der wissenschaftlichen Arbeit transparent zu machen. Zu glauben, man könne im verstehenden Denken solche eigenen kulturellen Prägungen wie mit einem Lichtschalter ein- oder ausschalten, hieße, den Neocortex des Gehirns samt aller gespeicherten (sozialen) Modelle bzw. Simulationen[221] stilllegen zu wollen. Man darf bezweifeln, ob so etwas funktionieren kann.[222]
So muss es denn auch nicht wundern, das Adorno[223] in seiner strengen Diktion die gesamte „Epoché“ für eine Illusion hält, und selbst unter den Phänomenologen gibt es diesbezüglich Aussagen, wie die von Herzog und Graumann, die in exakt diese Richtung des „Bewussthaltens“ und „Transparentmachend“ gehen: „Wir wissen seit geraumer Zeit, dass Wissenschaft, streng genommen, nicht ‚voraussetzungsfrei‘ betrieben werden kann…. Umso wichtiger wird dann die kritische Reflexion, die sich auf unsere eigenen Annahmen, Traditionen und Denkgewohnheiten richtet.“[224] Und das geht sehr wohl ohne imaginäres Aus- oder Einklammern.
Auch der Rekurs auf das eigene Bewusstsein hilft nicht wirklich weiter, ein Rekurs, auf den der Philosoph und Pädagoge Friedrich Kümmel (1933-2021) sich bezieht, wenn er festhält, Husserl vollziehe „mit der Epoché eine ausdrückliche Rückwendung des Bewusstseins auf sich selber.“[225] Hätte er damit Recht, unterstellte es Husserl einen extremen Subjektivismus der (wissenschaftlichen) Wahrnehmung, welcher dessen expliziten Anspruch konterkarierte, ein „Verfahren zur Erkenntnis der Wahrheit“[226], der Wahrheit über die Wirklichkeit, über die Welt zu entwickeln. Wobei hier nur festgehalten sei, dass dieser extreme Subjektivismus bei Husserl selbst tatsächlich durchscheint, aber diese Diskussion erforderte eine sehr viel grundsätzlichere, zeitlich geordnete Auseinandersetzung mit seiner Philosophie, als sie an dieser Stelle zu leisten ist.
Halten wir fest: Bewusst halten statt ausschalten bzw. vorgeblich ausschalten, das wäre dann ein Rezept für jede Wissenschaft, nicht nur die Philosophie, aber es wäre auch kein wirklich neuer Anspruch, kein neues „Verfahren“. Um sich das vor Augen zu führen, reicht es, den Klassiker von Thomas Kuhn über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen[227] zur Hand zu nehmen, aber im Grunde gilt diese Maxime auch für nichtwissenschaftliche Arbeit wie etwa den Journalismus – die Zurückhaltung gegenüber vorgefassten Konzepten sollte da zu jeder gediegenen Grundausbildung gehören –, die Medizin oder auch technische Entwicklungsarbeit gelten. Vorurteile, Vormeinungen machen nicht schlau, sondern blind, und um das anzuerkennen, bedarf es weder der Phänomenologie oder der Phänomenologen, noch aufgeblasener, angeblich ach so neuer und innovativer Methoden[228] oder Konzepte, wobei sich die phänomenologische Theorie letztlich ohnehin nur selbst widerspricht, wenn sie mit dem insgesamt sehr theoretischen und apriorischen Methodenkonzept der „Epoché“ einen theorie- und konzeptfreien Ansatz verwirklichen will.
Eidetisch reduziert
Damit sind wir am wichtigsten Punkt der phänomenologischen Philosophie angelangt, der in diesem Kontext interessieren soll. Er betrifft die bereits mehrfach erwähnte, so genannte „Reduktion“, das, was immer wieder als die eigentliche phänomenologische Methode apostrophiert wird. Aber Achtung! Wer glaubt, jetzt ginge es in der Phänomenologie endlich konkret und nachvollziehbar zu, Husserl käme jetzt endlich „zur Sache“, der könnte enttäuscht werden. Denn Husserl kennt – wieder einmal, könnte man jetzt sagen – nicht nur eine, nicht nur DIE Reduktion, sondern derer gleich zwei: eine „phänomenologische“ und eine „eidetische“[229], wobei sich die Bedeutung der beiden Arten im Laufe der Jahre verschoben haben dürfte, eine Behauptung, die aber, wie bereits betont, einer gründlicheren Auseinandersetzung mit Husserl bedürfte.
Dabei erklärt Husserl paradoxerweise nicht (zumindest nicht durchgängig) die phänomenlogische – wie man es vom „Erfinder“ des gleichnamigen philosophischen Systems erwarten würde –, sondern die eidetische[230] Reduktion zu seines Pudels Kern und stellt fest: „Wir folgen unserem allgemeinen Prinzip, dass jedes individuelle Vorkommnis sein Wesen hat, das in eidetischer Reinheit fassbar ist …“ und „(wir) fixieren .. in adäquater Ideation die reinen Wesen, die uns interessieren. Die singulären Fakta, die Faktizität der natürlichen Welt überhaupt entschwindet dabei unserem theoretischen Blicke – wie überall, wo wir rein eidetische Forschung vollziehen.“[231]
Im Unterschied dazu definiert er an anderer Stelle: „Die(se) Methode der ‚phänomenologischen Reduktion‘ ist … die Grundmethode der reinen Psychologie, die Voraussetzung aller ihrer spezifisch theoretischen Methoden.“[232] Um dann den Unterschied zwischen beiden in der „Epoché“ festzumachen: „Es bedarf … einer konsequenten ἐποχή (Epoché) des Phänomenologen, wenn er sein Bewusstsein als reines Phänomen gewinnen will …“ Und fortzufahren: „Die universale Epoché hinsichtlich der bewusst werdenden Welt (ihre ‚Einklammerung‘) schaltet aus dem phänomenologischen Feld die für das betreffende Subjekt schlechthin seiende Welt aus, aber an ihre Stelle tritt die so und so bewusste (wahrgenommene, erinnerte, beurteilte, gedachte, gewertete etc.) Welt ‚als solche‘, die ‚Welt in Klammern‘ oder, was dasselbe, es tritt an die Stelle der Welt bzw. des einzelnen Weltlichen schlechthin der jeweilige Bewusstseinssinn in seinen verschiedenen Modis (Wahrnehmungssinn, Erinnerungssinn usw.).“[233] „Schuf die phänomenologische Reduktion“, heißt es weiter, „den Zugang zu den ‚Phänomenen‘ wirklicher und dann auch möglicher innerer Erfahrung, so verschafft die in ihr fundierte Methode der ‚eidetischen Reduktion‘ den Zugang zu den invarianten Wesensgestalten der rein seelischen Gesamtsphäre.“[234]
Phänomenologischer Freestyle
„Eidetisch“ ist die Reduktion also dann, wenn durch das wiederholte Einklammern oder Ausschalten, das Nicht-Berücksichtigen des Transzendentalen der „natürlichen“, empirisch erfahrbaren Sachen (Dinge, Welt) deren „eidos“, ihr Wesen, zum Vorschein kommt. In gewisser Weise handelt es sich also um einen in verschiedenen Schritten bzw. Stufen ablaufenden Abstraktionsprozess – wobei Husserl einen deutlichen Unterschied zwischen Abstraktion und Eidetik macht, doch dazu gleich – von der empririschen Welt, dessen Resultat jedoch nicht das absolut bestimmungslose Sein der Hegelschen Logik ist, sondern ein Wesen, ein „eidos“, das die grundlegende Eigenschaft der immer noch „originären“ Sache bzw. des „originären“ Phänomens darstellt.[235]
Noch einmal leicht verändert stellt sich das Problem in Husserls methodischem Ansatz von der freien eidetischen Variation dar, mit der er im Rahmen der Reduktion das Wesen der Dinge erkennen will. Diese freie Variation, die Husserl offenbar in den 1920er Jahren, d. h. im Vergleich zu „eidos“ und „Epoché“ recht spät entwickelt[236], dient ihm zur Wesensan- oder Wesenserschaung, die ihrerseits bereits in Texten vom Anfang des 20. Jahrhunderts ohne die „freie Variation“ expliziert wird[237] Dabei unterscheidet Husserl allerdings streng zwischen empirischer und eidetischer Variation, eine Art Verdopplung der Begrifflichkeiten, die wir bereits bei Heideggers „Sein“ und bei Husserls Definition des „Phänomens“ kennengelernt hatten.
„Empirische Allgemeninheiten“, so Husserl, „… haben einen Umfang wirklicher und realer Einzelheiten. Gewonnen zunächst auf Grund der Wiederholung gleicher und dann weiter bloß ähnlicher, in faktischer Erfahrung gegebener Gegenstände, beziehen sie sich nicht nur auf diesen begrenzten und sozusagen auszählbaren Umfang von wirklichen Einzelheiten, aus denen sie ursprünglich gewonnen wurden; sondern sie haben in der Regel einen Horizont, der präsumptiv verweist auf weitere Erfahrung von Einzelheiten … Wir können uns, wenn es sich um Realitäten der vorgegebenen unendlichen Welt handelt, eine beliebige Anzahl weiter gebbarer Einzelheiten denken, die diese empirische Allgemeinheit als reale Möglichkeit mit umgreift.“[238]
Der Haken bei dieser Art der empirischen Allgemeinheit, des Abstraktionsprozesses aus den Einzelheiten der realen Welt, dessen Ergebnis in der Literatur häufig mit der eidetischen Wesensschau verwechselt wird, liegt für Husserl in der Zufälligkeit der ausgewählten bzw. auswählbaren Einzelheiten: „Der Umfang ist dann ein unendlich offener, und doch ist die Einheit der empirisch gewonnenen Spezies und höheren Gattung eine ‚zufällige‘.“[239] Um dann fortzufahren: „Der Gegenbegriff dieser Zufälligkeit ist die apriorische Notwendigkeit“[240], für die er statt „jenen empirischen Begriffen reine Begriffe zu bilden sind, deren Bildung also nicht von der Zufälligkeit des faktisch gegebenen Ausgangsgliedes und seiner empirischen Horizonte abhängig ist, und die einen offenen Umfang nicht gleichsam bloß im Nachhinein umgreifen, sondern eben vorweg: a priori“[241]
Ob das Ganze dann noch dem Anspruch der Epoché, der vormeinungs- und theoriefreien (wissenschaftlichen) Erkenntnisgewinnung qua Einklammerns genügt, darf dabei vor allem dann allerdings bezweifelt werden, wenn man liest, das „sie (die reinen Begriffe, E. S.) imstande sein müssen, allen empirischen Einzelheiten Regeln vorzuschreiben“[242] Zweifel kommen auch auf, wenn es bei Husserl ins Detail der „Wesensschau“ und der Gewinnung „reiner Begriffe“ geht.
„Aus dem Gesagten ist bereits klar geworden, dass zur Gewinnung der reinen Begriffe oder Wesensbegriffe empirische Vergleichung nicht genügen kann, sondern dass durch besondere Vorkehrungen das im empirisch Gegebenen zunächst sich abhebende Allgemeine vor allem von seinem Charakter der Zufälligkeit befreit werden muss.“[243] Das, glaubt Husserl, kann er dadurch erreichen, dass er durch „Abwandlung einer erfahrenen oder phantasierten Gegenständlichkeit zum beliebigen Exempel, das zugleich den Charakter des leitenden ‚Vorbildes‘ erhält, des Ausgangsgliedes für die Erzeugung eiiner offen endlosen Mannigfaltigkeit von Varianten, also auf einer Variation. M. a. W. (mit anderen Worten, E S.) wir lassen uns vom Faktum als Vorbild für seine Umgestaltung in reiner Phantasie leiten. Es sollen dabei immer neue ähnliche Bilder als Nachbilder, als Phantasiebilder gewonnen werden, die sämtlich konkrete Ähnlichkeiten des Urbildes sind. Wir erzeugen so frei willkürlich Varianten, deren jede ebenso wie der ganze Prozess der Variation selbst im subjektiven Erlebnismodus des ‚beliebig‘ auftritt. Es zeigt sich dann, dass durch diese Mannigfaltigkeit von Nachgestaltungen eine Einheit hindurchgeht, dass bei solchen freien Variationen eines Urbildes … in Notwendigkeit eine Invariante erhalten bleibt als die notwendige allgemeine Form …“[244]
Womit jetzt mit großem Erfolg bei der Wesensschau die Zufälligkeit des Abstraktionsprozesses aus der Empririe, aus den „Einzelheiten“, durch die Beliebigkeit des apriorischen „Urbildes“, der Auswahl und gedanklichen Vervielfältigung ersetzt wäre! Ein Erkenntnisgewinn? Das mag jeder selbst beurteilen.
Ein mögliches konkretes Beispiel für diese Art der Wesensschau wäre der Versuch, das Wesen eines braunen Pferdes zu bestimmen. Die empirische Allgemeinheit bietet keine Schwierigkeiten, da wir beim Betrachten einer Anzahl „n“ reeller oder phantasierter braunen Pferde die Gemeinsamkeiten schnell festgestellt sind: braune Farbe, vier Beine, spitze Ohren und was uns dazu noch alles einfällt. Der Prozess unendlichfach wiederholten Einklammerns mit folgender Reduktion bringt uns auch nicht wirklich weiter. Wählten wir die Farbe „braun“ beim Einklammern, bliebe noch das Pferd, im umgekehrten Falle hätte man das „Pferd“ einzuklammern und landete eher bei der Form als bei der Substanz, wiewohl diese Form für Hegel[245] ja inhärenter Teil des Wesens ist, was aber die ganze Einklammerei ohnehin obsolet erscheinen ließe. „Gerade weil die Form dem Wesen so wesentlich ist als es sich selbst, ist es nicht bloß als Wesen, d. h. als unmittelbare Substanz … zu fassen und auszudrücken, sondern ebensosehr als Form und im ganzen Reichtum der entwickelten Form …“, schreibt der Philosoph und präzisiert, dass er das Wesen, anders als Husserl, ohnehin nicht als die letzendliche Abstraktion des Denkens betrachtet: „Das absolute Wesen ist daher nicht in der Bestimmung erschöpft, das einfache Wesen des Denkens zu sein, sondern es ist alle Wirklichkeit, und diese Wirklichkeit ist nur als Wesen; …“[246]
Wenn wir frei nach Husserl all das einklammern, was zum Pferd gehört beziehungsweise seine Bestimmungen ausmacht, dann müssen wir letztlich auf sämtliche seiner konkreten oder abstrakten Eigenschaften verzichten: braun, Vierbeiner, Unpaarhufer, Säugetier, Transportmittel, Lebewesen, und es bleibt uns von unserem schönen Pferd nur eine schemenhafte, begriffslose Wahrnehmung, vielleicht bestenfalls eine Ich-bezogene Funktionsbestimmung, wenn ich es gerade reite oder mir von ihm einen Karren ziehen lasse. Ob das dann das Wesen, das Grundlegende, die Substanz unseres braunen Pferdes ist, kann man bezweifeln, so wie man bezweifeln kann, ob das „Ding“ ohne den kulturell geprägten Kategorienbegriff „Pferd“ überhaupt ein solches sein kann. Ich entferne alles Transzendentale und gelange zum Wesen – das war das Husserlsche „Rezept“, aber genau so gelangt man nicht zum Wesen, sondern zum philosophischen Nichts.
Das Problem, so wie es weiter oben bereits benannt war, besteht darin, dass die letztmögliche Einklammerung, Ausschaltung, Reinigung, d. h. die letzte Abstraktion von Transzendentalem nicht, wie bei Hegels Sein eine Kategorie des logischen Systems ist, sondern eine des Erkenntnisprozesses, dessen letztes Resultat genauso „originär“, ursprünglich sein soll wie die „Sachen selbst“ oder besser die Phänomene selbst. Und mehr noch: Wenn schon, wie angemerkt, die „Epoché“ im Grunde auf einer Illusion aufbaut, dann gilt das natürlich auch für die Reduktion, die ja auf der „Epoché“ basiert. Verwirrend – wie so vieles – wirkt an dieser Stelle nur, dass Husserl dann wieder das Empirische und das Wesen zugleich ausschalten will: „Nun frage ich:“, schreibt er, „Können wir nicht eine Einstellung gewinnen derart, dass das Empirische, das Eigentümliche der Gegebenheit der natürlichen Einstellung, ganz ausgeschaltet bleibt, und zwar so, dass auch sein Wesen als Wesen von Natur ausgeschaltet bleibt, während andererseits doch Komponenten erhalten bleiben, die in das Wesen von Natur, bzw. in die Natur selbst in individuo eingehen? Eine zunächst unverständliche Frage.“[247]
Mit der „freien eidetischen Variation“ wiederum landen wir nicht einmal bei einer, wie auch immer vollständigen, bestimmungslosen Abstraktion, sondern blieben gleich von Anbeginn an in der Beliebigkeit stecken. Was sollen oder wollen wir denn als zu vervielfältigendes „Urbild“ unseres braunen Pferdes wählen? Die braune Farbe? Dann fielen darunter aber auch alle braunen Katzen, braunen Aktentaschen, braunen Baumstämme. Das „eidos“ aller dieser braunen „Dinge“ wäre dann, dass sie braun sind? Einmal abgesehen davon, dass man mit dem „Zauberstab“ der eidetischen Variation ja im Grunde die Reduktion überflüssig macht, wenn man schon durch einfache gedankliche Vervielfältigung eines „Urbildes“ das Wesen „schauen“ kann. Und ist es nicht schlicht tautologisch, wenn man bei der Beantwortung der Frage, nach dem Wesen eines braunen Pferdes unvermeidlich beim „braunen Pferde“ ankommt? Fragen über Fragen, die die Phänomenologie zu beantworten hätte, und die beim Versuch, die Phänomenologie zum „Organon“ der Ethnologie zu machen, zumindest diskutiert gehörten?
IV – Phänomenale Ethnologie
Zurück zum eigentlichen Thema dieses Essays, zu den noch recht jungen, kaum 30 Jahre alten Versuchen der Ethnologie, die so genannte, auf den Anfang des 20. Jahrhunderts zurückgehende phänomenologische Methode für die eigene Forschung zu vereinnahmen und nutzbar zu machen! Wenn bisher viel von der Husserlschen oder der Heideggerschen Philosophie und deutlich weniger von ethnologischer Theorie die Rede war, dann lag das daran, dass die Phänomenologie, besser, die vielen unterschiedlichen Phänomenologien, für sich genommen schon so viel Widersprüchliches und Diskussionswürdiges präsentieren, dass eine Reihe Fragen vor jedem Zugriff auf das von Husserl so genannte „Organon“, das Werkzeug bzw. den Werkzeugkasten geklärt gehörten.
Daruber, wann genau vor allem von Ethnologen aus dem angelsächsichen Sprachraum die ersten Versuche in dieser Richtung gemacht wurden, gibt es leicht unterschiedliche Aussagen. Während Schnegg angibt, dass die Grundlagen dafür seit den 1990er Jahren gelegt wurden und das volle Potential phänomenologischer Konzepte erst seit wenigen Jahren ans Tageslicht kommt[248], legen Desjarlais und Throop den Beginn in die Mitt-1980er. In der Einführung[249] des Frankfurter Ethnologen Karl-Heinz Kohl von 1993 tauchen allerdings noch weder die Phänomenologie noch die wichtigsten Autoren des neuen Trends, Zigon, Desjarlais oder Throop auf, was wiederum untermauert, dass die deutschsprachige Ethnologie erst spät auf den phänomenologischen „Zug“ aufgesprungen ist, obwohl die Phänomenologie selbst ja inzwischen mehr als ein Jahrhundert als und eindeutig deutschen Ursprungs ist.
Zudem noch ist, ganz unabhängig von der erwähnten ethnologischen Theorieströmung, eine gewisse Skepsis angebracht, was eine solche Rezeption der Phänomenologie für alle möglichen Wissenschaften betrifft. Herzog und Graumann lassen solche Skepsis angebracht erscheinen, wenn sie schreiben: „Man hat der Phänomenologie oder besser deren Rezeption gelegentlich Funktionen zugeschrieben, die sie für die Humanwissenschaften habe bzw. haben könne. Als deren wichtigste werden diskutiert die heuristische (das eigene Erkennen und Lernen öffnende, E. S.), die kritische (kritisch gegenüber allen gängigen Theorien, E. S.) und die deskriptive (im Sinne der Phänomenologie intentional beschreibende , E. S.). Tatsächlich verweisen diese Attribute, recht verstanden, auf notwendige, wenn auch nicht zureichende Elemente einer phänomenologischen Orientierung in den Humanwissenschaften. Recht verstanden, soll hier heißen, in ihrer phänomenologischen Intention.“[250] Gerade mit Bezug auf das letztgenannte Attribut, das intentional beschreibende, ist Vorsicht mehr als angeraten, bedeutet es doch, dass jeglicher Bezug auf die so genannte phänomenologische Methode obsolet ist, wenn man versucht, die ontologische Seite der Phänomenologie außen vor zu lassen.
Dabei fangen die Probleme schon bei der Frage an, wer unter den zeitgenössischen Ethnologen überhaupt als Anhänger des phänomenologischen Ansatzes identifiziert wird bzw. sich selbst als solcher sieht. Das ist, unbeschadet der Notwendigkeit jedes selbsterklärten Phänomenologen, transparent zu machen, auf welche der vielen, weils stark widersprüchlichen Varianten der Schule er sich denn nun stützt, auf Husserls oder Heidegger, auf Merleau-Ponty oder Waldenfels, unabdingbar, um über Plausibilität und Sinnhaftigkeit der angewandten phänomenologischen Methode überhaupt diskutieren und entscheiden zu können. Das nicht klarzustellen, setzt den Wissenschaftler bestenfalls dem Vorwurf der Rosinenpickerei aus, wobei die, angesichts der Widersprüchlichkeiten, mit denen Husserl oder Heidegger selbst immer wieder für Verwirrung sorgen, sogar verständlich erscheinen könnte.
Die Notwendigkeit der klaren (Selbst)Identifizierung haben einige Ethnologen auch erkannt und kritisch festgehalten, wie etwa die bereits zitierten Desjarlais und Throop: „Angesichts der Tatsache, dass Husserl die Phänomenologie als eine Philosophie des kontinuierlichen (Neu)Anfangs betrachtete, ist es durchaus möglich, zu behaupten, dass es ebenso viele Phänomenologien wie Phänomenologen gibt.“[251] Ob das dann allerdings die Behauptung der beiden Autoren rechtfertigt oder sinnvoll erscheinen lässt, auch im Buddhismus und im Hinduismus phänomenologische Ideen ausgemacht zu haben, darf bezweifelt werden.[252]
Wenn Robert Bernet schreibt, dass die phänomenologische „… Methode … aus einer Reihe von Reduktionen besteht, die von Husserl vorgeschlagen wurden … (dass sich sich jedoch) spätere Phänomenologen … nicht immer an diese Reduktionen (halten) …“[253], dann liegt, angesichts dieses Verzichts auf DIE phänomenologische Methodik schlechthin, die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines Etiketts „Phänomenologie“ auf der Hand. Der Eindruck, es handele sich vielleicht bei derart Phänomenologie um nicht viel mehr als um ein modisches Buzzword, ist jedenfalls nicht gänzlich von der Hand zu weisen.
Der eine oder andere, der in der ethnolgisch-philosophischen Diskussion zum Phänomenologen erhoben wurde, mag sein „Glück“ mit großen Augen zur Kenntnis genommen haben, wenn er denn noch lebte. Das könnte zum Beispiel auf den deutschen Philosophen und Soziologen Max Ferdinand Scheler (1874-1928) zutreffen, den Schnegg als wichtigen phänomenologischen Autor identifiziert[254], von dem die Encyclopaedia Britannica aber weiß, dass er, „obwohl für seinen phänomenologischen Ansatz erinnert“, wohl nicht nur keine große Sympathie für Husserl empfand, sondern auch ein entschiedener Gegner der Husserlschen Methodik und insbesondere von dessen „Logischen Untersuchungen“ und den „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“ war. Ob Phänomenologie ohne die Methode mehr Sinn ergibt, als die phänomenologische Methode ohne das ontologische System, was bereits diskutiert wurde, mag jeder für sich entscheiden.
Ein anderer Fall ist der des amerikanischen Anthropologen Clifford Geertz (1926-2006), dem Desjarlais und Throop zwar nur gelegentliche und ambivalente Ausflüge in die Phänomenologie attestieren, ihn aber gleichzeitig als Ethnologen bezeichnen, der versuchte, die Phänomenologie auf ethnologische Fragen anzuwenden.[255] Allenfalls könnte man Geertz, der im Interview allzu große Nähe zum phänomenologischen System abstreitet – „Ich beschäftige mich nicht mit Systemen“[256], sagt er, und „die phänomenologische Analyse steht nicht im Zentrum meiner Überlegungen“[257] –, mit seinem Konzept der „thick description“, deutsch „dichte Beschreibung“, phänomenologisch interpretieren, aber das bedeutete, wie bereits ausgeführt, die Phänomenologie und ihre Methode auf’s Deskriptive zu reduzieren, und klänge auch nicht sehr überzeugend, zumal Geertz im selben Interview seine „angewandte Phänomenologie“ synonym setzt mit „angewandter Hermeneutik“[258], ein Aspekt, der aber hier nicht weiter diskutiert werden soll.[259]
Geertz betont, dass dieselbe „phenomenalistische“ – nicht phänomenologische (!) – Beobachtung[260] nicht den wesentlichen Unterschied zwischen zwei auf den ersten Blick identischen Phänomenen erkennen kann – sein Beispiel, ein Augenzwinkern, ist einmal ein nervöser Tick, dann wieder ein verschwörerisches Zeichen unter Eingeweihten. Das nämlich setzte voraus, dass das Wesen der Dinge ihrer Erscheinung vorgeordnet wäre, was mit den meisten Interpretationen der phänomenologischen Idee nur schwer vereinbar erscheint.
Rosinenpickerei
Um Konzepte oder Methoden der Phänomenologie gewinnbringend für die Ethnologie zu nutzen, müsste man sie zunächst einmal in Gänze und nicht nur selektiv, sozusagen in Krümeln – Stichwort: „Rosinenpickerei“ – rezipieren und sich dann auch kritisch mit ihnen auseinandersetzen, denn die inneren Widersprüche sind ja, wie gezeigt, unübersehbar. Statt dessen befleißigen sich Ethnologen nicht selten darin, die Widersprüchlichkeit – euphemistisch: die breite Vielfalt an Varianten – der philosophischen Diskussion mehr oder weniger unhinterfragt zu reproduzieren, und dabei muss man sich gar nicht bei philosophiegeschichtlich wie exegetisch fragwürdigen Aussagen wie der Angabe Schneggs aufhalten, Husserl habe den Begriff, pardon den deutschen Begriff „Wesen“ eingeführt, um zu den „Sachen, wie sie erscheinen“ zu gelangen[261]. Und dann gleich noch zu erklären, man gelange über die Betrachtung des Phänomens aus allen möglichen Perspektiven zum Wesen. Dass nach Husserls Auffassung über die empirische Variation, die Abstraktion von allen Einzelheiten, gerade nicht zum „eidos“ zu gelangen ist, hatte Husserl ja klar formuliert.
Die Probleme beginnen dabei schon mit der Definition dessen, was die Phänomenologie ist, bzw. sein soll und was sie will. Bei Zigon und Throop etwa finden sich Husserls „intuitiv“ begreifbare Erfahrung in dieser Definition wieder: „Phänomenologie ist also, wie Husserl betonte, keine Philosophie der individuellen Subjektivität, sondern eine eidetische Philosophie, eine, die essenzielle Strukturen der Erfahrung enthüllt“ … und die sich „exklusiv mit intuitiv begreifbaren Erfahrungen (oder Erlebnissen?, E. S.) in ihrer essenziellen Allgemeinheit beschäftigt, nicht dagegen mit empirisch wahrgenomenen und als reale Tatsachen behandelten Erfahrungen.“[262] Was eine intuitive Wahrnehmung in essenzieller Allgemeinheit genau sein soll, diese Erklärung bleiben uns die beiden allerdings dann genauso schuldig, wie eine Begründung, warum hier zwar von intuitiver Wahrnehmung die Rede ist, nicht aber von der durch Reduktion zu erzielenden Kenntnis des Wesens der „Sachen“.
Ihnen gegenüber liest sich bei Desjarlais & Throop die Essenz der Phänomenologie in der Subjektivität der Erfahrung, ganz gleich ob diese individuell oder kollektiv gemacht wird: „Phänomenologie: die Untersuchung von Phänomenen, wie sie dem Bewusstsein eines Individuums oder einer Gruppe erscheinen, die Untersuchung der Dinge, wie sie in unseren erlebten Erfahrungen erscheinen.“[263] Was sich zwar, wie auch die Definition von Zigon und Throop, immer auf die eine oder andere fragmentarische Übereinstimmung mit den Texten der Philosophen berufen kann, nie aber das Gesamtbild wiedergibt – nicht einmal das eines einzigen Phänomenologen. Die Diskrepanz etwa zu Heidegger ist unübersehbar und wird deutlich, wenn man sich nur die weiter oben zitierten Passagen zum Problem der (nicht) erscheinenden Phänomene ins Gedächtnis ruft.[264]
Skepsis gegenüber der Rezeption phänomenologischer Texte durch die Ethnologie sind vor allem dort angebracht, wo diese in offenem Widerspruch zu theoretischen Ausagen der „Altmeister“ Husserl und Heidegger stehen. Desjarlais und Throop etwa zeigen wenig Verständnis für die gedanklichen Verästelungen der Phänomenologien, wenn sie im Zusammenhang mit der postulierten „großen Nützlichkeit phänomenologischer Methoden in der ethnologischen Forschung“ [265]schreiben, in deren Fokus habe „der Ruf nach einem radikalen Empirizismus … und das Einklammern kultureller und natürlicher Haltungen“[266] gestanden. Nichts liegt, wie wir gesehen haben, Husserl und auch Heidegger ferner als jeglicher, dann auch gleich noch „radikaler“ Empirizismus, und bei der Frage des „Einklammerns“ kulturelle und natürliche Wahrnehmungen, Vormeinungen oder Interpretationen Seit‘ an Seit‘ antreten zu lassen, ist im Zusammenhang dessen, was etwa Husserl als „natürlich“ begreift, auch nicht wirklich hilfreich.
Nun sind solche Rezeptionen – man mag sie lücken- oder fehlerhaft nennen – beileibe keine Spezialität angelsächsischer Autoren, auch wenn unsere eingangs gemachten Überlegungen zu sprachlichen Problemen das suggerieren könnte. Der bereits zitierte Michael Schnegg etwa macht sich sich schon dort angreifbar, wo er die Husserlsche Methode der Reduktion aufgreift, die er der Frage zuordnet, „… wie gelangen wir zu den Sachen, wie sie erscheinen? Um dorthin zu gelangen, führt Husserl den deutschen Begriff (wir schon erwähnt, publiziert Schnegg häufig auf Englisch, E. S.) Wesen (essence) ein“[267]. Und dabei nicht nur die problematische Übersetzung des „eidos“ als Wesen statt als Gestalt außer Acht lässt, sondern auch die Tatsache, dass das Wesen sich für Husserl nicht durch Abstrahieren von der unmittelbaren Erscheinung zeigen kann, wie Schnegg postuliert: „Wenn wir das Phänomen aus allen möglichen Perspektiven betrachten und alle möglichen Erscheinungensweisen berücksichtigen, so bleiben einige grundlegende Charakteristika unverändert: Die stellen sein Wesen oder den Kern seiner Identität dar.”[268]
Antinomien
Auffällig ist auch, was Schnegg als phänomenologische Methode(n) Husserls identifiziert: statt der Reduktion – auf der Basis der „Epoché“ – benennt er die „Epoché“ und die freie imaginative Variation[269]: Ersteres ist nur bedingt eine Methode, sondern eher, wie Husserl selbst sagt, eine Grundhaltung, letzteres führt der Philosoph wie gezeigt als Bestandteil der Wesensschau ein, wobei er eine deutliche Unterscheidung zwischen der häufig referierten empirischen und der eidetischen Variation vornimmt und die Frage, wo das gesuchte Wesen der Dinge versteckt ist, nur unzureichend bis gar nicht beantworten kann, dabei aber immer wieder mit seinen eigenen Ansprüchen wie etwa einer vormeinungslosen, theoriefreien Wissenschaft kollidiert.[270]
Zweifel sind bei Schneggs Rezeption der Phänomenologie auch dort angebracht, wo er versucht, die so genannte phänomenologische Methode in die theoretische Arbeit des Ethnologen zu transportieren. Wie schon im Essay „Fremder, quo vadis“[271]diskutiert, ist sein „Hammer“-Beispiel jedenfalls weit von phänomenologischer Theorie entfernt. „Ohne das Nägel in die Wand Hämmern, hätten wir keine Hämmer“[272], schreibt er und erhebt nicht die „Gestalt“ („eidos“ ursprünglich) oder eine wie auch immer geartete Substanz, sondern die (eine der möglichen) Funktion(en) zum Wesen des Hammers. Die Sache hat, wie jeder Handwerker bestätigen kann, den Haken, dass diese strenge und eindimensionale Funktionsbeziehung nicht stimmig ist: Zum einen ist der Hammer auch bereits einer, wenn er noch im Werkzeugkasten liegt und er kann auch zu verschiedenen anderen Zwecken als zum Nägel (in die Wand) hämmern benutzt werden; zum anderen können auch mit anderen Werkzeugen Nägel in die Wand gehämmert werden, die dadurch nicht gleich eine Metamorphose zum Hammer durchleben. Dass Schnegg auch Schwierigkeiten bei der Aufgabe bekommen könnte, das angesprochene Wesen unseres braunen Beispielpferdes zu erfassen, muss an dieser Stelle nicht noch einmal ausgeführt werden.
Das hat, wie bereits festgehalten, ganz prinzielle Gründe: Wenn „Wesen“ überhaupt ein sinnvoller Begriff sein soll, dann hat er nichts Unmittelbares, „originäres“, sondern besteht aus einer kulturell geprägten und entsprechend mit Sinn erfüllten Begrifflichkeit. Das hat Adorno bereits aufgegriffen: „Die harmlos-szientifische Maxime der Husserlschen Phänomenologie, in deskriptiv getreuen Bedeutungsanalysen das Wesen der Begriffe zu erschauen, als ob jeder einzelne … ein unerschütterlich festes Wesen hätte, ermuntert schon zur Scheinkonkretion.“[273]
War das Verhältnis zwischen Wesenhaftem und Empirie bzw. unmittelbarer Wahrnehmung schon bei den Phänomenologen selbst kein widerspruchsfreies, dann ist bei vielen der „phänomenologisierenden“ Ethnologen der Konflikt nicht etwa gelöst, sondern schlicht beiseite geschoben worden. Dass das, was dann von der Phänomenologie nach einer kritischen Betrachtung von „eidos“, „Variation“, „Reduktion“ oder „Epoché“ als Methode übrig bleibt, ist im Grunde nicht viel mehr als ein wenig Sorgfalt beim Umgang mit Wahrnehmungen, die Aufforderung bzw. der wissenschaftliche Ethos, Voreingenommenheiten nicht in Form von blinden Vorurteilen die Interpretation der Empirie beherrschen zu lassen, und schließlich ein wenig wissenschaftliche Deontologie, die eigentlich zum Werkzeugkasten jedes Ethnologen gehören sollten, ganz gleich, ob phänomenologisch orientiert oder nicht.
Eigentlich hätte man ja vermuten können, dass in der Epoché, dem Einklammern von Vormeinungen, ein guter, auch eurozentrismuskritischer Ansatz steckte, den auch Geertz schon für die Ethnologie verfolgte: „…was wir unsere Informationen nennen, sind in Wahrheit unsere eigenen Konstrukte der Konstrukte anderer, die das betreffen, zu was sie und ihre Mitbürger in der Lage sind“[274]. Hätte können, denn in Wahrheit steckt in der angeblisch so vorurteilsfreien Phänomenologie wie auch in ihrer ethnologischen Rezeption jede Menge eurozentristischen Gedankenguts.[275]
So fordern Desjarlais und Throop zu Recht, es käme für Ethnologen darauf an, eurozentristische Vorurteile auszuschalten, genauer, diejenigen „Vorannahmen, die aus deren eigenem kulturellem und theoretischem Erbe stammen“[276], aber wie schon beim Thema Ontologie konstatiert, marschiert hier der Eurozentrismus, kaum hat man ihn zur Vordertüre hinauskomplimentiert, wieder zur Hintertüre herein. So, wenn Desjarlais und Throop schreiben: „Die Tatsachen, dass zum einen die Welt, die vor uns liegt, als Welt, die wir teilen betrachtet wird, als eine, die wir gemeinsam bewohnen, und dass zum zweiten andere als Wesen anerkannt werden, die diese Welt als dieselbe, zu teilende Welt erfahren, sich wie wir selbst an ihr orientieren und in ihr leben …“[277]
Auch wenn Schnegg schreibt, „Die Phänomenologie liefert universelle Konzepte, um Erlebnisse (oder Erfahrung) theoretisch zu verarbeiten“[278], dann stellt das einen deutlichen Rückfall gegenüber der Forderung nach Vorurteilsfreiheit dar. Universelle kulturelle oder theoretische Konzepte sind nicht deshalb universell, weil sie in allen Kulturen dieser Erde gleich und gleichförmig entstehen und zu beobachten sind, sondern es sind immer die Konzepte einer einzelnen unter den vielen menschlichen Kulturen, die anderen, fremden Kulturen übergestülpt werden und – nicht nur im Zeitalter des Kolonialismus – wurden. Selbst Geertz ist nicht ganz frei davon, in diese Falle zu tappen: „Analyse bedeutet immer, Bedeutungsstrukturen herauszufinden.“[279]
Der Phänomenologie eine tendenziell eurozentrismuskritische Intention attestieren zu wollen, vergisst, dass sie – wie auch die Ethnographie derselben Epoche – selbst eine vollständig eurozentrierte Philosophie ist, geboren in einer westlichen, europäischen Welt, in einem europäischen philosophischen Umfeld, gerichtet gegen eine europäische Metaphysik und immer so fort. Und das gilt, so lange niemand eine außereuropäische Kultur entdeckt, in der sich Menschen gemeinisam mit Heidegger mit der Suche nach dem Sinn des Sinns des Seins beschäftigen.
Dass Versuche, die Phänomenologie für die Ethnologie zu nutzen, auch im Detail an mehr oder weniger ausgeprägter Unschärfe der Interpretation leiden, ist nach dem bisher Gesagten nicht mehr sehr erstaunlich. Schneggs Äußerung etwa, die Phänomenologie sei der „theoretische Ansatz, um ein Phänomen aus den Myriaden Perspektiven derer zu erforschen, die es erfahren haben“[280], ist dafür ein Beispiel: Sie erscheint vor allem in der Sicht dessen, was bereits – in den Passagen über die „freie Variation“ – gesagt wurde, als nicht stimmig. Da war es nämlich um zwei Dinge gegangen: zum einen um den Abstraktionsprozess (empirische Variation) aus unzähligen Einzelheiten, um deren „Allgemeines“ zu finden – Akteur, das menschliche Subjekt –, zum anderen um die Wahl einer Ur-Einzelheit und deren gedankliche Vervielfältigung (eidetische Variation), Akteur immer noch das menschliche Subjekt bzw. der phänomenologisch arbeitende Wissenschaftler.
Weil sich die phänomenologische Ethnologie nicht oder zumindest nicht gründlich genug mit den Antinomien des phänomenologischen Denkens auseinandersetzt, fügt sie den Irrungen und Wirrungen, die dieses ohnehin schon mitbringt, ihre eigenen hinzu. Da postulieren dann Zigon und Throop ungeachtet des Anspruchs der Intentionalität des wahrnehmenden Bewusstseinis: „… Husserls berühmter Aufruf ‘Zurück zu den Dingen selbst!’ war eine Selbstverpflichtung, wirklich jedes Phänomen so zu untersuchen, wie es sich selbst darstellt.“[281] Und Schnegg fügt mit seiner Aussage, dass „… als was Dinge in einer Situation erscheinen, … eine Kombination dessen wie sie erscheinen und dem gesellschaftlichen Kontext ist“[282], der phänomenologischen Konfusion Husserlscher und Heideggerscher Provenienz seine eigene hinzu.
Vielleicht hat Clifford Geertz den wunden Punkt der Phäno-Ethnologie getroffen, wenn er konstatiert, was wie eine implizite Kritik am Ignorieren solcherart phänomenologischer Widersprüchlichkeiten klingen könnte: „… wissenschaftlliche Erklärungen bestehen nicht … aus einer Reduktion des Komplexen.“[283] Der Erkenntnisgewinn einer solchen Adaptation phänomenologischen Denkens für die Ethnologie erscheint im Lichte des Gesagten jedenfalls überschaubar, um es vorsichtig auszudrücken. Und das gilt umso mehr als diese gerade erst versucht (hat) die letzten Spuren des Eurozentrismus kolonialistischer Prägung hinter sich zu lassen.
Das letzte Wort in diesem Zusammenhang gehört noch einmal Theodor Adorno: „Die Fundamentalontologie entzieht sich nicht zuletzt darum, weil von ihr ein der Methodologisierung der Philosophie entstammendes Ideal von ‚Reinheit‘ – das letzte Bindeglied war Husserl –, als Kontrast des Seins zum Seienden, aufrecht erhalten, dennoch aber gleichwie über Sachhaltiges philosophiert wird.“[284]
V – Gedanken auf Abwegen
Man kann, wie gesehen, an den philosophischen Positionen der Phänomenologie vieles diskutieren und kritisieren – und das gilt auch für das, was die Ethnologie für ihre eigenen Zwecke von den Phänomenologen als „Methode“ übernehmen zu können glaubt. Es betrifft auch und vor allem Begrifflichkeiten wie „rein“ oder „natürlich“, die zuallererst ideologiekritisch zu betrachten wären, bevor man sie für eigene theoretische Überlegungen übernimmt. Beide Begriffe, im Zusammenhang mit Erkenntnisprozessen des Bewusstseins bei Phänomenologen wie Ethnologen zu finden, waren bereits Gegenstand dieses Textes und sollen an dieser Stelle einmal „eingeklammert“ bleiben. Sie umstandslos und undifferenziert dem aufkommenden Nazisprech der Epoche zuzuschlagen, wäre nicht nur deshalb vorschnell, weil sie auch in den Schriften eines jüdischen Phänomenologen wie Edmund Husserl, zentrale Positionen belegen, eines Phiilosophen, der den Terror der Naziherrschaft bis zu seinem Tode 1938 noch am eigenen Leibe erfahren musste.
Weitaus problematischer sind politische Implikationen der Arbeit Heideggers, über die man nur mit einem gehörigen Maß an Selbsttäuschung hinweg sehen sollte oder kann. Der war, und darüber gibt es inzwischen praktisch keine Zweifel mehr, von 1933 bis zum Ende des Regimes 1945 ein Anhänger der Nazis und Mitglied der NSDAP, auch wenn er offenbar nach dem Krieg versucht haben soll, das Ende seiner Parteimitgliedschaft vorzudatieren. Erfolglos!
Als Schüler des 30 Jahre älteren Edmund Husserl an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg wurde Heidegger 1919 dessen Assistent und trat 1928 seine Nachfolge auf dem Philosophie-Lehrstuhl der Freiburger Universität an. Das Verhältnis der beiden wird als eng geschildert, was sich auch in einer Widmung – „Edmund Husserl in Verehrung und Freundschaft zugeeignet“ – für die erste Ausgabe des 1927 erschienenen Heideggerschen Hauptwerks „Sein und Zeit“ zeigte. Die Freundschaft sollte allerdings nicht lange halten. Schon in der zweiten Ausgabe von „Sein und Zeit“ war die Widmung gestrichen, und Heidegger, der 1933, dem Jahr seines Eintritts in die NSDAP, zum Rektor der Freiburger Universität ernannt wurde, war damit zumindest mitverantwortlich dafür, dass dem bereits 1928 emeritierten Husserl die noch gültige Lehrerlaubnis entzogen wurde. 1936, Heidegger war – angeblich aus persönlichen Gründen – bereits seit zwei Jahren vom Rektorenposten zurückgetreten, verschwand der Name Husserl gänzlich aus den Universitätsunterlagen, und sein Tod, zwei Jahre später, wurde offiziell nicht zur Kenntnis genommen. Großer Abwesender bei der Beerdigung: der einstige Freund und Vertraute Martin Heidegger.
Nach diesen knappen biografischen Daten erscheint es zumindest diskussionswürdig, sich so nonchalant der Problematik des „Nazi“-Heideggers zu Gunsten seines „reines-Bewusstsein“-Doppelgängers zu entledigen, wie Schnegg das versucht: „Kritiker bestehen darauf, dass seine politischen Neigungen inhärente Probleme seiner Philosophie offenbaren, während seine Anhänger argumentieren, man könne seine politischen und philosophischen Positionen voneinander trennen. Nichtsdestotrotz möchte ich, indem ich die problematischen Aspekte seines Denkens im Auge behalte, einen anderen Aspekt seiner Arbeit kritisch aufnehmen und entwickeln, das ‚In-der-Welt-Sein‘“[285].
Genau dieses „In-der-Welt-Sein“ stellt nun allerdings, wie bereits gezeigt, einen der problematischsten Punkte des Heideggerschen Denkens dar, insbesondere dort, wo es mit der „Geworfenheit“ der Heideggerschen Philosophie assoziiert ist, einer „Geworfenheit“, die letztlich eine „… Geworfenheit zum Tode“ ist. Das „In-der-Welt-Sein“ ist ja weit mehr als, wie man es gemäß dem alltäglichen Sprachgebrauch vermuten könnte, eine Art des „mit beiden Beinen im Leben stehen“. Es ist eine „Geworfenheit“ in die Faktizität, ein apologetischer Fatalismus, der letztlich auch das Fehlen eines Grundes für jedwede Realität bedeutet – auch für die eines wie auch immer gearteten Wesens. Die damit ja auch in gewisser Weise im Widerspruch zu Heideggers Suche nach dem Sinn (des Sinns) des Seins steht, was dem Philosophen – und damit der Phänomenologie insgesamt – von Seiten Adornos den Vorwurf der Seinshörigkeit und Seinsgläubigkeit eintrug.[286]
Hatte diese Philosophie wirklich nichts mit der Denkungsart der Nazis zu tun? Nichts damit, dass Heidegger schon vor der Machtübernahme Hitlers 1932 öffentlich für diesen auftrat und „die vollständige Umwälzung unseres deutschen Daseins“[287] verkündete? Dass er lange Zeit Sympathien für den Hitler-Inspiratoren Ernst Jünger (1895-1998) empfand? Liegt der Philosoph, Ethnologe und Soziologe Árpád-Andreas Sölter gänzlich „daneben“, wenn er „… Heideggers Engagement für den Nationalsozialismus aus dessen Kulturkritik und Entfremdungsdenken (erklärt), welches die bereits in seinem Hauptwerk "Sein und Zeit" … angelegte Kritik an der conditio moderna zu einer Theorie des gegenwärtigen Zeitalters verlängert und für gravierende Fehlwahrnehmungen im Bereich des Politischen verantwortlich zeichnet.“[288] Und zu der Schlussfolgerung kommt, „Heidegger habe sich … zum philosophischen Berater des Führerstaats [stilisiert], den er in einer Art Selbstüberhebung intellektuell gestalten und womöglich zähmen zu können glaubte.“[289] War es dann vielleicht auch nur ein Zufall, dass Heidegger in den „Dossiers über Philosophie-Professoren“ des „Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS“ Heidegger explizit positiv bewertet und als NS-Philosoph klassifiziert wurde?[290]
Die Frage, die sich die phänomenologisch orientierte Ethnologie stellen muss, lautet: Kann die Philosophie eines Nazis, dem Adorno offene Sympathie mit der Barbarei vorwarf[291], wirklich das Leitbild oder auch nur das „Organon“ einer kritischen, post-kolonialistischen Ethnologie sein? Fragen, deren Klärung man sich vor dem Versuch einer Nutzbarmachung – nicht nur der Heideggerschen – Phänomenologie bzw. ihrer Methode gewünscht hätte. Wobei man an diesem Punkt der Gerechtigkeit halber festhalten muss, dass unter den von Heidegger, der immer noch als einer der wichtigsten deutschen Philosophen unserer Zeit gilt, beeinflussten Denkern jede Menge NS-unverdächtiger Namen auftauchen: Jean-Paul Sartre (1905-1980) und Herbert Marcuse (1898-1979) ebenso wie Hannah Arendt (1906-1975) oder auch die Franzosen Maurice Merleau-Ponty, Jacques Derrida (1930-2004) und Michel Foucault (1926-1984).
Für jemanden, der wie der Autor den „langen Atem“ der Nazizeit noch selbst miterlebt hat – nicht zuletzt als Gymnasialschüler unter einem Schuldirektor, der sich mehr oder weniger offen seiner Zeit in der Waffen-SS rühmte –, ist diese Proselytenriege einigermaßen unverständlich, allenfalls bleibt erahnbar, dass das Jahrhundert der Menschheitsverbrechen jede Menge weltanschaulicher Wegweiser verstellt hat. Eine Ahnung davon kann gewinnen, wer sich das im Internet zugängliche Video der Rede Heideggers mit dem Titel „Bauen, Wohnen, Denken“[292] von 1951 zu Gemüte führt, das in seiner düsteren Diktion ein gutes Bild vom Zeitgeist der Epoche gibt. Es mag hart klingen, aber die bigotten Versuche einer Rechtfertigung des Naziregimes vom Genre „aber die Autobahnen …“ kommen einem unvermeidlich in den Sinn. Man ist versucht, on der „dunklen Seite der Macht“ (Star Wars, George Lucas) zu sprechen-
Der bigotte Zeitgeist beschränkte sich dabei mitnichten auf die Philosophie Heideggers oder die Phänomenologie schlechthin. Eine ähnliche Wiederauferstehung nach der NS-Zeit konnte beispielsweise auch der Dirigent Wilhelm Furtwängler (1886-1954) feiern, wie der Mediensoziologe Siegfried Weischenberg schreibt, eines Orchesterchefs, dessen Dirigierstil die österreichische Schriftstellerin Hilde Spiel (1911-1990) mit „tönende Bilder über alle Logik hinaus“ beschrieb – „Doch sei ‚die Massenhysterie, die er in seinem Publikum erzeuge‘, voller Gefahrenzeichen“ –, und den sie als jemanden charakterisierte, „in dessen Musikauffassung (sie) eben jenen hochfahrenden Jenseitigkeits- und Ewigkeitsanspruch verkörpert … (sah), der sich nicht nur über jede Logik, sondern über jede Ratio schlechthin hinwegsetzt: das deutsche Wesen, an dem die Welt genesen soll.“[293]
Diese Langlebigkeit des Gedankenguts nazinaher (nicht nur) Philosophen und Künstler hatte Adorno als bereits in der Heideggerschen Ontologie angelegt analysiert: „Die Ontologien in Deutschland, zumal die Heideggersche, wirken stets noch weiter, ohne dass die Spuren der politischen Vergangenheit schreckten.“[294] In gewisser Weise wird diese Langlebigkeit durch den Trend zur Phänomenologie in der ethnologischen Theorie der letzten Jahrzehnte noch einmal verlängert. Und kontrastiert in erstaunlicher, ebenfall nicht auf die Philosophie beschränkter Vergesslichkeit, was ihre Opfer betrifft. Schreibt Husserl-Herausgeber Held: „Das Schweigen über Husserl bleibt ein für die deutsche Kulturszene der Wirtschaftswunderjahre beschämender posthumer Triumph des Nationasozialismus …“[295]
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Anmerkungen
[1] Adorno, T. W., Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, 1970 (2022), 9 f.
[2] a. a. O., 99.
[3] Dasselbe kann man auch von Texten Heideggers sagen, in denen man Aussagen findet wie: „In-sein ist … der formale existenziale Ausdruck des Seins des Daseins, das die wesenhaftte Verfassung des In-der-Welt-seins hat. Das ‚Sein bei‘ der Welt … ist ein im In-Sein fundiertes Existenzial.“ (Heidegger, M., 1927, 52 f.) Oder auch: „Dasein ist Seiendes, das sich in seinem Sein verstehend zu diesem Sein verhält … Diese Seinsbestimmungen des Daseins müssen nun aber a priori auf dem Grunde der Seinsverfassung gesehen und verstanden werden, die wir das In-der-Welt-sein nennen.“ (a. a. O.).
[4] Holzhey, H., Zu den Sachen selbst! – Über das Verhältnis von Phänomenologie und Neukantianismus, in: Herzog, M. & C. F. Graumann, Sinn und Erfahrung – Phänomenologische Methoden in den Humanwissenschaften, 1991, 7 f.
[5] Husserl, E., Die phänomenologische Methode – Ausgewählte Texte I, 2021 (2024), 6.
[6] Herzog, M. & C. F. Graumann, Hundert Jahre phänomenologische Forschung: Rückblick, Status und Ausblick, in: Herzog, M. & C. F. Graumann, Sinn und Erfahrung – Phänomenologische Methoden in den Humanwissenschaften, 1991.
[7] Bei Husserl selbst bleibt die Frage unklar, und meist ist von „Erfahrung“ die Rede, auch wenn sein Begriff der originiären Wahrnehmung eher dem Wahrnehmungs-„Erlebnis“ zuzuschlagen wäre. Vgl. z.B. Husserl, E., Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, 1913-1, 98: „Natürliche Erkenntnis hebt an mit der Erfahrung und verbleibt in der Erfahrung.“
[8] „Phenomenology is thus, as Husserl maintained, not a philosophy of individual subjectivity but an eidetic philosophy, a philosophy that reveals essential structures of experience ...” „… has as its exclusive concern, experiences intuitively seizable and analyzable in ther pure essential generality, not experiences empirically perceived and treated as real facts.” Zigon, J. & J. Throop, Phenomenology, www.anthroencyclopedia.com, 2021, 4.
[9] “… concept of experience … is central to all forms of phenomenological philosophy…”, a. a. O., 3.
[10] „Phenomenology is a theory of experience”, Schnegg, M., Phenomenological Anthropology – Philosophical Concepts for Ethnographic Use, 2023, 5.
[11] „What, then, do phenomenologists mean by experience, and how has it been taken up by phenomenological anthropologists? When phenomenologists and phenomenological anthropologists write about experience, they are primarily concerned with describing the essential conditions of experience. Therefore, rather than simply providing a description of a series of events and activities that accumulate over time and shape a person’s life, phenomenologists investigate and describe the potentialities and relationships that make experience possible in the first place. Rather than merely describing that a homeless person in Boston may be ‘struggling along’, phenomenological anthropologists will also investigate which conditions led to this predicament in the first place and offer a way for understanding how these conditions shape lives. As this entry hopes to show, these conditions of experience constitute what it is to be human in all of its vast socio-historic diversity. In other words, in contrast to a notion of human nature that might emphasise, for example, that humans are rational animals or animals with language, phenomenologists write about conditions of experience that above all indicate that humans are essentially relational beings that become who they are because of the relations with which they are always intertwined ...” (Zigon, J. & J. Throop, 2021, 4).
[12] „…complications quietly involved are suggested by the fact that in the German language there are two words that are often considered cognate with the English word ‚experience’: namely Erlebnis and Erfahrung …” „… there is a whole gamut of connotations, implications and linguistic and conceptual histories in words …”, Desjarlais, R., The Question of Experience, in: Zeitschrift für Ethnologie/Journal of Social and Cultural Anthropology, Vol. 148 No. 1, 2023, 104.
[13] „... result of reflections (Erlebnis) of what we have lived-through (Erleben)…”, Schnegg, M., a. a. O., 4.
[14] Desjarlais, R. & C. J. Throop, Phenomenological Approaches in Anthropology, 2011.
[15] Husserl, E., Ideas: General lntroduction to Pure Phenomenology, 1962 und The Crisis of European Sciences and Transcendental Phenomenology, 1970.
[16] Heidegger, M., Being and Time, 1996.
[17] Merleau-Ponty, M., Phenomenology of Perception, 1962.
[18] Adorno, T. W., Negative Dialektik, 1966 (1975) und Adorno, T. W., 1970 (2022).
[19] Husserl definierte als seine erste Aufgabe „… eine Kritik der Vernunft. Eine Kritik der logischen und der praktischen Vernunft, der wertenden überhaupt.“ (Janssen, P., Einleitung zu Husserl, E., Die Idee der Phänomenologie, 1986 [2016], IX
[20] Rehding und Worreschk verorten die Leiblichkeit – „ ... dass sich dem Subjekt die Welt allererst anhand seiner Leiblichkeit erschließt ..." – allerdings nicht erst bei Merleau-Ponty, sondern bereits bei Husserl. „Der Leib, als lebendige Erfahrung der Erste-Person-Perspektive, bildet das Zentrum, um das herum sich die Welt für das Subjekt entfaltet.“ (Rehding, F.-M. & J. C. Worreschk, Die phänomenologische Methode, www.macau.uni-kiel.de, 2024, 91 f.).. Bei Husserl findet sich der Leib in den „Grundproblemen“: „Blicken wir jetzt hin auf Leib und auf die den Leib umgebende Raumzeitlichkeit. Jedes Ich findet sich als einen organischen Leib habend. Der Leib ist seinerseits kein Ich, sondern ein raumzeitliches „Ding", um welches sich eine ins Unbegrenzte fortgehende dingliche Umgebung gruppiert.“ (Husserl, Edmund, Grundprobleme der Phänomenologie 1910/11, 1977 [1992]).
[21] Hegel, G. W. F., Phänomenologie des Geistes, Theorie-Werkausgabe (TWA), 1970 (2023), 145 f.
[22] vgl. Bertram, 2021, 108: Hegel weiß, dass der Geist ohne den Körper (Leib) wenig hergibt „Das ‚Bewusstsein in der Gestalt der Dingheit, der Körper, ist eine notwendige Voraussetzung, dass einn Selbstbewusstsein sich als selbständig bewähren kann.“
[23] … oder zu klassifizieren, wie es etwa Schnegg (Schnegg, M., a. a. O., 11) versucht: „Phenomenologists have developed a wide range of concepts, which I group in six approaches (Husserl, Heidegger, Merleau-Ponty, Waldenfels, Schmitz, Stein).“
[24] in:: Herzog, M. & C. F. Graumann, a. a. O., XI.
[25] Husserl selbst spricht von einem Organon, Werkzeug. (Husserl, E., 1927, 196).
[26] Rehding, F.-M. & J. C. Worreschk, 2024, 81.
[27] „Although each of these perspectives can be understood as involving distinct applications of phenomenology, they all share a number of thematic an methodological orientatiions that are variously taken up in the work of contemporary anthropologists”, Desjarlais, R. & C. J. Throop, a. a. O., 88.
[28] „Phenomenology offers a wealth of concepts that have not been fully explored.”, Schnegg, M., a. a. O., 4.
[29] Adorno, T.W., 1970, 41.
[30] Husserl, E., a. a. O., 196.
[31] Husserl, E., a. a. O., 130 ff.: „In dieser Weise finde ich mich ... in Beziehung auf die eine und selbe, obschon dem inhaltlichen Bestande nach wechselnde Welt.“
[32] vgl. dazu: Supp, E., Fremder, quo vadis? Erkenntnistheoretische Überlegungen zum kulturkonfrontativen Denken, www.enos-mag.de, 2024.
[33] vgl. dazu: Pushkareva, M. A., J. G. Fichte als Begründer der Phänomenologie, in: Wissen, Freiheit, Geschichte: Die Philosophie Fichtes im 19. und 20. Jahrhundert. Band III, 2013.
[34] Der damit all diejenigen Lügen straft, die die vor-husserlsche Phänomenologie als nicht oder ungenügend definiert abtun.
[35] Der deutsche Philosoph Karl-Heinz Volkmann-Schluck (1914-1981) spricht vom postmetaphysischen Zeitalter (Volkmann-Schluck, K.-H., Die Philosophie Martin Heideggers, 1996, 7).
[36] vgl. Schütz, A., Collected Papers III Studies in Phenomenological Philosophy, 1966. Zu dieser Bewegung werden dann auch der deutsche Philosoph Bernhard Waldenfels, die deutsch-amerikanische Publizistin Hannah Arendt (1906-1975), der austro-amerikanische Soziologe Alfred Schütz (1899-1959), die deutsche Philosophin Edith Stein (1891-1942), der deutsche Philosoph Hermann Schmitz (1928-2021) u.v.m. gezählt, aber auch Wissenschaftler , die diese Zugehörigkeit für sich selbst gar nicht reklamieren würden, doch dazu später.
[37] „Praktizierte phänomenologische Forschung hat sich erstmals vor hundert Jahren in den 1890 erschienenen Principles of Psychology von William James als eine neue Art methodischer Orientierung in der empirischen Psychologie dokumentiert.“, (Herzog, M. & C. F. Graumann, a. a. O., IX). Auch in den „Grundproblemen“ ist der Bezug der Phänomenologie zur Psychologie noch sehr zentral. (vgl. Husserl, E., 1977 [1992]).
[38] Wobei Husserl selbst zu Protokoll gibt: „Der erste Philosoph, der eine phänomenologische Reduktion vollzogen hat, freilich sie vollzogen hat, um sie alsbald wieder preiszugeben, war Descartes.“ (Husserl, E., a. a. O., 54).
[39] d. h. aus dem Denken, der Vernunft gefundenen bzw. erschlossenen; der Apriorismus ist eine erkenntnistheoretische Schule, die davon ausgeht, „dass bestimmtes Wissen ohne Bezug auf die Erfahrung gerechtfertigt werden kann, oder im engeren Sinn, dass Erkenntnisse gänzlich ohne jede Erfahrung möglich sind“ (Wikipedia „Apriorismus“, www.de.wikipedia.org/wiki). Husserl gibt in „Die Idee der Phänomänologie“ seine Definition des Apriorischen: „… apriori (das ist dem Wesen nach) …“ (Husserl, E., 1986 [2016], 22. Hier wäre zu diskutieren, ob die Bestimmung des Wesens als apriorisch nicht dem Ansatz widerspricht, nach dem das Wesen durch widerholte Reduktionen erst abgeleitet wird. Interessant auch, dass in diesem Text die Abfolge Methode-Wissenschaft noch genau entgegengesetzt auftaucht: „Phänomenologie: das bezeichnet eine Wissenschaft, einen Zusammenhang von wissenschaftlichen Disziplinen; … aber zugleich und vor allem eine Methode und Denkhaltung: die spezifisch philosophische Denkhaltung, die spezifisch philosophische Methode.“ (a. a. O.)
[40] zitiert nach Husserl, E., 1927, 196.
[41] Holzhey, H., 1991, 6.
[42] Merleau-Ponty lässt am rein deskriptiven Charakter seiner Phänomenologie keinen Zweifel und erscheint in dieser Beziehung noch radikaler als Husserl oder Heidegger: „Es geht darum, zu beschreiben und nicht darum, zu erklären oder zu analysieren … Alles, was ich von der Welt weiß, und sei es durch die Wissenschaft, weiß ich durch eigene Anschauung oder durch eine Welterfahrung, ohne die die Symbole der Wissenschaft nichts bedeuteten. Das gesamte Universum der Wissenschaft baut auf der erlebten Welt auf“ („Il s’agit de décrire, et non pas d’expliquer ni d’analyser … Tout ce que je sais du monde, même par la science, je le sais à partir d’une vue mienne ou d’une expérience du monde sans laquelle les symboles de la science ne voudraient rien dire. Tout l’univers de la science est construit sur le monde vécu …)“, Merleau-Ponty, M., Phénoménologie de la perception, 1945 (2017), 8 f., (Alle Übersetzungen aus dem fremdsprachigen Original durch den Autor, E. S.)
[43] vgl. Hennigfeld, I., Phänomenologie und Imagination: Idealisieren und Realisieren, in: RoSE (Research on Steiner Education, Vol. 0, No. 1, 2018, 1.
[44] Heidegger, M., Sein und Zeit, 1927, 27 f.
[45] a. a. O.
[46] Husserls Vorurteilsfreiheit ist in der Philosophiegeschichte dabei nichts wirklich Neues: “Worum es Husserl mit seinem Programm eigentllich ging, war ein keineswegs neues Ideal der Philosophie: radikal vorurteilsfreie Erkenntnis“ (Held, K., in: Husserl, E. 1927, 12
[47] Husserl, E., Philosophie als strenge Wissenschaft“, in: Logos 1910/11, zitiert nach Hennigfeld, I., 2018, 3.
[48] Husserl, E., Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Psychologie, zitiert nach Hennigfeld, I., 2018, 3.
[49] Husserl, E., Aufsätze und Vorträge (1911-1921), zitiert nach Hennigfeld, I., 2018, 3.
[50] Husserl, E., 1913-2, 136
[51] „Mit der Substruktion rein hinnehmenden Denkens jedoch stürzt die Behauptung der Phänomenologie zusammen, der die gesamte Schule ihre Wirkung verdankte: dass sie nicht erdenke, sondern forsche, beschreibe, keine Erkenntnistheorie sei, kurz, nicht das Stigma reflektierender Intelligenz trage. Das Arkanum der Fundamentalontologie aber, das Sein, ist der auf die oiberste Formel gebrachte, angeblich rein sich darbietende kategoriale Sachverhalt … Zu bestreiten ist nicht die Unmittelbarkeit von Einsicht schlechthin, sondern deren Hypostasis.“ (Adorno, T. W., 1966, 88).
[52] Adorno kommentiert diese Kampfansage so: „Der Schein des Konkreten beruht auf der Verdinglichung von Resultaten, nicht unähnlich der positivistischen Sozialwissenschaft, welche die Produkte gesellschaftlicher Prozesse als letzte hinzunehmende Tatsachen verzeichnet.“ (Adorno, T.W., a. a. O., 44) Und weiter: „Husserls Versuch, durch philosophische Meditation den Bann der Verdinglichung zu brechen und in ‚originär gebender Anschauung‘ die ‚Sachen selbst‘, wie die Phänomenologen zu nennen es liebten, ‚in den Griff zu bekommen, bleibt der eigenen Absicht nach ... mit der Wissenschaft einverstanden.“ „Husserl akzeptiert das Denken in seiner verdinglichten Gestalt ... Sein Programm denkt Philosophie als ‚strenge Wissenschaft‘, während der ‚Ausschaltung alle Natur- und Geisteswissenschaften mit ihrem gesamten Erkenntnisbestande, eben als Wissenschaften‘ verfallen, … ebenso die ‚reine Logik als mathesis universalis‘ (die Descartessche Universalmathematik, E. S.), ohne die jener Begriff strenger Wissenschaft keinen Sinn hätte, dem doch Husserl die Phänomenologie unterwirft.“ (a. a. O., 1970, 54 f.).
[53] „Mit der vorläufigen Charakteristik des thematischen Gegenstandes der Untersuchung (Sein des Seienden, bzw. Sinn des Seins überhaupt) scheint auch schon ihre Methode vorgezeichnet zu sein.“, Heidegger, M., a. a. O., 27.
[54] a. a. O., 27 f.
[55] a. a. O., 35.
[56] a. a. O., 37. Seit Husserl und Heidegger haben sich viele an einer Definition der Phänomenologie versucht. So etwa der belgische Philosoph Rudolf Bernet, der von einer „philosophischen Strömung in der zeitgenössischen Philosophie … die von der unmittelbaren und intuitiven Erfahrung von Phänomenen ausgeht …“ spricht, bzw. einem Versuch, „daraus die wesentlichen Eigenschaften du Erfahrungen und das Wesen des Erlebten abzuleiten“, ohne Rekurs auf „bestimmte(..) Voraussetzungen aus und …. frei von (kausalen) Theorien“. (Bernet, Rudolf, Was kann Phänomenologie heute bedeuten?, www.information-philosophie.de, 2023). Rehding und Worreschk ihrerseits schreiben: „ … phänomenologische Untersuchungen betrachten Erlebnisse von Erscheinungen und das mit der Absicht, die diesen Erlebnissen zugrunde liegende Vernunft ans Licht zu bringen“ (Rehding, Fynn-Merlin & Johannes C. Worreschk, 2024, 82), was die Frage aufwirft, ob wirklich hinter jedem Phänomen so etwas wie Vernunft steckt, eine Aussage, die man auch im Reich der Religion vermuten könnte.
[57] Husserl, E., Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution und Wissenschaftstheorie sowie das Nachwort zu meinen Ideen, 1913-2, 150: „Dinge sind wie in der Wahrnehmung, so auch bewusst in Erinnerungen und in erinnerungsähnlichen Vergegenwärtigungen, auch bewusst in freien Phantasien.“
[58] Wikipedia, „Husserl“, www.de.wikipedia.org/wiki.
[59] Holzhey, H., 1991, 14.
[60] Husserl, E., 1913-1, 101 f.
[61] Holzhey, H., a. a. O..
[62] a. a. O.
[63] Husserl, E., 1913-1, 105.
[64] Bertram, G. W., Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘, 2021, 153.
[65] Hegel, G. W. F., a. a. O., 323.
[66] Waldenfels, B., Phänomenologie unter eidetischen, transzendentalen und strukturalen Gesichtspunkten, in: Herzog, M. & C. F. Graumann, Sinn und Erfahrung – Phänomenologische Methoden in den Humanwissenschaften, 1991, 65.
[67] Hegel spricht von der Dualität von Sinnlichkeit und Verstand, von sinnlicher und rationaler Erkenntnis, wobei der Begriff Sinnlichkeit ein wenig irreführend klingt. (vgl. Jaeschke, W., 2020, 49 & 57)
[68] vgl. dazu: Wikipedia „Phänomenologie (Methodik)“, www.de.wikipedia.org/wiki: „Ist eine Wissenschaft gänzlich der Beschreibung und Einteilung der Phänomene oder Erscheinungen gewidmet (deskriptive Wissenschaft), so verfährt sie allein nach phännomenologischer Methodik“, und auch Vittorio De Palma: „Husserls Phänomenologie kann als eine Art radikaler Empirismus gelten …, da sie daran festhält, dass die sinnliche Erfahrung Grundlage und Quelle des Wissens ist …“ („Husserl’s phenomenology can be considered as a form of radical empiricism … since it holds ... that sensuous experience is the foundation and the source of justification of knowledge ... “, De Palma, V., Die Phänomenologie als radikaler Empirismus, in: Studia Phaenomenologica XII, 2012).
[69] Husserl, E. 1913-2, 160.
[70] Waldenfels, B., 1991, 82.
[71] a. a. O., 74.
[72] Heidegger, M., 1927, 12.
[73] a. a. O., 29.
[74] a. a. O.
[75] a. a. O., 52 f.
[76] a. a. O., 56.
[77] Husserl, E., 1913-2, 137
[78] Auch an anderer Stelle macht Husserl Aussagen, die mindestens heute nicht mehr zu halten sind, es vielleicht aber auch bereits zu Lebzeiten des Philosophen nicht mehr waren. So etwa, wenn er schreibt:“ Ein Ding, das nicht räumlich wäre, ein Ding, das nicht reale Eigenschaften hätte, das wäre ein nonsens“ (Husserl, E., 1977, [1992], 47), und „Alle Körper …. sind ‚ausgedehnt‘“(Husserl, E., 1913-1, 109), was im Widerspruch zur Entdeckung von masse- und vor allem raumlosen Elementarteilchen steht.
[79] Adorno, T. W., a. a. O., 93.
[80] Auf diesen Punkt wird noch näher eingegangen. Hier nur ein Hinweis zum Tatsachenverständnis Husserls: „ ... reine Wesenswahrheiten enthalten nicht die mindeste Behauptung über Tatsachen, also ist auch aus ihnen allein nicht die geringfügigste Tatsachenwahrheit zu erschließen.“ (Husserl, E., 1913-1, 105).
[81] a. a. O., 100.
[82] a. a. O., 108 f.: „Der als wirklich gesetzte Sachverhalt ist dann Tatsache, sofern er individueller Wirklichkeitsverhalt ist, er ist aber eidetische Notwendigkeit, sofern er Vereinzelung einer Wesensallgemeinheit ist.“ „... jedem individuellen Gegenstand ... (gehört) ... ein Wesensbestand (zu) als sein Wesen, wie umgekehrt jedem Wesen mögliche Individuen entsprechen, die seine faktischen Vereinzelungen wären ...“
[83] Rehding, F.-M. & J. C. Worreschk, 2024, 88.
[84] Husserl, E., 1913-2, 134
[85] Hier nur so viel vorab: „Die universale Epoché hinsichtlich der bewusst werdenden Welt (ihre ‚Einklammerung‘) schaltet aus dem phänomenologischen Feld die für das betreffende Subjekt schlechthin seiende Welt aus, aber an ihre Stelle tritt die so und so bewusste (wahrgenommene, erinnerte, beurteilte, gedachte, gewertete etc.) Welt ‚als solche‘, die ‚Welt in Klammern‘ oder, was dasselbe, es tritt an die Stelle der Welt bzw. des einzelnen Weltlichen schlechthin der jeweilige Bewusstseinssinn in seinen verschiedenen Modis (Wahrnehmungssinn, Erinnerungssinn usw.).“ (Husserl, E., 1927, 201 f.)
[86] Heidegger, M., 1927, 55. Adorno kommentiert in dem Zusammenhang: „… die Husserlsche ειδη (eidos: Art, Spezies, E. S:), aus denen dann beim Heidegger von ‚Sein und Zeit‘ Existenzialien wurden …“ (Adorno, T. W., 1966, 70).
[87] Husserl, E., 1913-1, 99. Bei Merleau-Ponty liest sich das so: „Wir müssen uns also nicht fragen, ob wir wirklich eine Welt wahrnehmen, wir müssen im Gegenteil sagen: Die Welt ist das, was wir wahrnehmen.“ („Il ne faut donc pass se demander si nous percevons vraiment un monde, il faut dire au contraire : le monde est cela que nous percevons.“, Merleau-Ponty, M., 1945 (2017), 16 f.) Und weiter: „Die Welt ist nicht das, was ich denke, sondern das, was ich lebe“ („Le monde est non pas ce que je pense, mais ce que je vis, ...“, a. a. O., 17), wobei man auf diesen Gegensatz von Denken und Leben, so als könnten wir denken, ohne zu leben oder leben, ohne zu denken, erst einmal kommen muss. Adorno ahnt, wo so etwas hinführt: „… durch die den Wissenschaften entlehnte Form der phänomenologischen Deskription, die ihm scheinbar nichts hinzufügt, ändert es (das Denken, E. S.) sich gerade in sich selber. Denken wird aus Denken ausgetrieben.“ (Adorno, T. W., 1970, 56).
[88] Husserl, E., 1913-2, 134
[89] a. a. O., 143.
[90] Husserl, E., 1977 (1992), 45.
[91] Husserl, E., 1913-1, 99.
[92] vgl. dazu Schütz, A., 1966, XV f.
[93] vgl. dazu: Supp, E., 2024, 11: „Das Begreifen des Fremden scheint im Alltag wie in der Wissenschaft eine unserer schwierigsten Übungen überhaupt, und das mit Grund, wie man sehen wird. Sie ähnelt unserer Unfähigkeit, bestimmte abstrakte Kategorien, mit denen unser Gehirn qua Abstraktionsleistung umgehen kann, als konkrete Realitäten zu begreifen und uns vorzustellen: unendlich zum Beispiel – eine Größe, mit der wir in mathematischen Modellen sogar rechnen – oder ewig, Anfang, Ende, Nichts oder dessen Gegenpart, bestimmungsloses Sein, das bei Hegel erst durch das Dasein zum Etwas wird.“
[94] Husserl, E., 1913-1, 98
[95] in: Husserl, E., 1927, 23
[96] vgl. Barrett, L. F., How Emotions are Made – The Secret Life of the Brain, 2017 und Barrett, L. F., Seven and a Half Lessons about the Brain, 2021
[97] Heidegger, M., 1927, 33
[98] Adorno, T. W., a. a. O., 14 f.
[99] a. a. O., 15. Der Abstraktionsprozess, eigentlich der Widerspruch zwischen Abstraktion und Eidetik kommt noch ausführlicher zur Sprache. Adornos ätzender Kommentar: “Der sich selbst verborgene Abstraktionsmechanismus neigt immanent zur gleichen Ontologie, der er entgegenarbeitet.“ (Adorno, T. W., a. a. O. 29).
[100] a. a. O., 15 f.
[101] a. a. O., 17
[102] a. a. O., 21
[103] Der Ethnologe Michael Schnegg scheint das so zu sehen, wenn er sagt, Husserl „… ging in zwei unterschiedlichen Aspekten über Kant hinaus. Zum ersten wies er die Idee des Dings an sich zurück und betonte, dass, selbst wenn eine solche „reale Welt“ existierte, das nicht wirklich relevant sei. “ („… went beyond Kant in two important ways. First her rejected the idea of a thing-in-itself and argued that even if such a ‘real world’ exists, it does not matter as such.”) (Schnegg, M. a. a. O., 5)
[104] Damit wird die scheinbar paradoxe Entdeckung der Teilchenphysik bezeichnet, dass miteinander verschränkte Elementarteilchen sozusagen in Echtzeit dieselben Eigenschaften annehmen, auch wenn sie Lichtjahre und weiter voneinander entfernt sind.
[105] vgl. www.spiritsciencecentral.com/scientists-clock-quantum-magic-measuring-entanglement-in-ridiculously-tiny-time-slices/
[106] in: Husserl, E. 1927, 18. Viel kohärenter klingt die Evidenz auch bei Merleau-Ponty nicht. „Allgemeiner gesagt, müssen wir uns nicht fragen, ob unsere Evidenzen wirklich Wahrheiten sind oder ob, verursacht durch eine Fehlfunktion unseres Geistes, das, was für uns evident ist, bezüglich einer wie auch immer gearteten Wahrheit an sich, illusorisch ist: Denn wenn wir von Illusionen sprechen haben wir bereits Illusionen erkannt und konnten das nur im Namen einer Wahrnehmung, die sich im selben Moment als wahr herausstellte …“ („Plus généralement, il ne faut pas se demander si nos évidences sont bien des vérités, ou si, par un vice de notre esprit, ce qui est évident pour nous ne serait pas illusoire à l’égard de quelque vérité en soi: car si nous parlons d’illusion, c’est que nous avons reconnu des illusions, et nous n’avons pu le faire qu’au nom de quelque perception qui, dans le même moment, s’attestât comme vraie …“, Merleau-Ponty, M., 1945 (2017), 16 f.)
[107] Wikipedia „eidetische Reduktion“, www.de.wikipedia.org/wiki2
[108] Adorno, T. W., a. a. O., 43
[109] vgl. Held, K., a. a. O., 14: „So weiß ich mich bei allem, was mir in meinen Erfahrungen, Erlebnissen oder Gedanken begegnen man, verwiesen auf Situationen, in denen das Erfahrene, Erlebte, Gedachte ursprünglich – Husserl sagt: „originär“ – im Umkreis meines Erfahrens, Erlebens, Denkens aufgetaucht ist oder darin in originärer Weise auftreten könnte ... In diesem Sinne hat alles originär Erscheinende einen subjekt-relativen Charakter ... sich einem ... Subjekt darzubieten.“ Wie wenig dieses subjektivistische „originär” als Erkenntniskriterium taugt, wird am Beispiel des Klimas deutlich, das Held selbst anführt: „… das Klima eines Landes kommt mir auf gänzlich andere Weise ursprünglich zur Gegebenheit als der Inhalt eines mathematischen Lehrsatzes …“ (a. a. O., 15) Ausgerechnet das Klima, nicht etwa das Wetter, soll also intuitiv und originär erfahrbar sein? Das Klima, von dem unzweifelbar feststeht, dass es im Gegensatz zu Regen und Sonnenschein, zu Wärme und Kälte usw. nichts anderes als eine menschengemachte statistische Abstraktion darstellt.
[110] Husserl, E., 1913-2, 1
[111] a. a. O.
[112] vgl. Wikipedia „Maurice Merleau-Ponty“, www.de.wikipedia.org/wiki. Dass Herzog und Graumann die Intentionalität als „ … kleinsten gemeinsamen Nenner“ sieht, „unter dem auch heterogene methodische Ansätze in einer sie verbindenden phänomenologischen Perspektive interpretiert werden können“ (Herzog, M. & C. F. Graumann, a. a. O., XI), ist in diesem Zusammenhang eine mindestens diskussionswürdige These.
[113] Herzog, M. & C. F. Graumann, a. a. O., XIV f.
[114] vgl. Hennigfeld, I., 2018, 1
[115] Hegel, S. W. F., TWA 3, 1970, 77.
[116] Adorno, T. W., 1966, 16.
[117] In „Die Idee der Phänomenologie“ definiert Husserl noch zwei Arten von Phänomenen: die naturwissenschaftlichen („Das also ist das Phänomen im Sinne der Naturwissenschaft, die wir Psychologie nennen.“ und die phänomenologischen, (vgl. Husserl, E., 1986 [2016], 44).
[118] Husserl, E., 1927, 198 f.
[119] Heidegger, M., 1927, 28.
[120] a. a. O., 30.
[121] a. a. O., 29.
[122] a. a. O., 30.
[123] a. a. O., 30.
[124] a. a. O., 31.
[125] Held, K., a. a. O., 16
[126] Husserl, E., 1927, 196.
[127] Held, K., a. a. O., 15 f.
[128] Heidegger, M, a. a. O., 5.
[129] Adorno, T. W., a. a. O., 71.
[130] Adorno, T. W., 1970, 35.
[131] In „Die Idee der Phänomenologie“ findet sich diese Definition des „natürlichen“ Denkens in Abgrenzung zum philosophischen: „Natürliches, um die Schwierigkeiten der Erkenntnismöglichkeit unbekümmertes Denken (also „frei nach Schnauze“?, E.. S.) in Leben und Wissenschaft – philosophisches Denken, bestimmt durch die Stellung zu den Problemen der Erkenntnismöglichkeit.“ (Husserl, E., 1986 (2016), 3) Und ergänzt: „Natürliche Geisteshaltung ist um Erkenntniskritik noch unbekümmert. In der natürlichen Geisteshaltung sind wir anschauend und denkend den Sachen zugewandt, …“ (a. a. O., 17) Und weiter: „So schreitet die natürliche Erkenntnis fort. Sie bemächtigt sich in immer weiterem Umfang der von vornherein selbstverständlich existierenden und gegebenen und nur nach Umfang und Inhalt, nach Elementen, Verhältnissen, Gesetzen näher zu erforschenden Wirklichkeit. So werden und wachsen die verschiedenen natürlichen Wissenschaften, die Naturwissenschaften als Wissenschaften von der physischen und psychischen Natur, die Geisteswissenschaften, andrerseits die mathematischen Wissenschaften, die Wissenschaften von den Zahlen, den Mannigfaltigkeiten, den Verhältnissen usw. In den letzteren Wissenschaften handelt es sich nicht um reale Wirklichkeiten, sondern um ideale, an sich gültige, im übrigen aber auch von vornherein fraglose Möglichkeiten (a. a. O., 18).
[132] Husserl, E., 1913-1, 98.
[133] Husserl, E., 1913-2, 136.
[134] Husserl, E., 1986 (2016), 34 f.: „Alle natürliche Erkenntnis, die vorwissenschaftliche und erst recht die wissenschaftliche, ist transzendent objektivierende Erkenntnis; sie setzt Objekte als seiend, erhebt den Anspruch, Sachverhalte erkennend zu treffen, die in ihr nicht ‚im wahren Sinne gegeben‘ sind, ihr nicht ‚immanent‘ sind.“ Und wenig später: „… das alles sind Transzendenzen und sind als das erkenntnistheoretisch Null. Erst durch eine Reduktion, die wir auch schon phänomenologische Reduktion nennen wollen, gewinne ich eine absolute Gegebenheit, die nichts von Transzendenz mehr bietet.“ (a. a. O., 44)
[135] vgl. Micali, Stefano, Der Ich-Begriff in Der Husserlschen Phänomenologie, in: Überschüsse Der Erfahrung. Phaenomenologica, vol 186, 2008, 9
[136] zitiert nach Holzhey, H., 1991, 6
[137] Husserl, E., 1913-1, 101 f.
[138] Husserl, E., 1913-2, 152
[139] a. a. O., 106
[140] Husserl, E., 1913-2, 159
[141] Husserl, E., 1927, 197
[142] im Titel zu Husserl, E., 1913-1
[143] Husserl, E. a. a. O., 204, wo er von der phänomenologisch reinen Psychologie spricht.
[144] Husserl, E., 1913-2, 147
[145] Husserl, E., 1927, 201
[146] Husserl, E., 1913-2, 143
[147] vgl. Hegel, G. W. F., TWA Register, 1979
[148] Adorno, T. W., a. a. O., 43
[149] a. a. O., 96 f.
[150] s. dazu das Methodenkapitel dieses Textes.
[151] Holzhey, H., 1991, 6.
[152] Husserl, E., 1927, 201: „Die universale Epoché hinsichtlich der bewusst werdenden Welt (ihre ‚Einklammerung‘) schaltet aus dem phänomenologischen Feld die für das betreffende Subjekt schlechthin seiende Welt aus, aber an ihre Stelle tritt die so und so bewusste Welt ‚als solche‘, die ‚Welt in Klammern‘ oder, was dasselbe, es tritt an die Stelle der Welt bzw. des einzelnen Weltlichen schlechthin der jeweilige Bewusstseinssinn in seinen verschiedenen Modis (Wahrnehmungssinn, Erinnerungssinn usw.).“
[153] s. dazu meinen Essay „Fremder, quo vadis“, Supp, E., 2014
[154] vgl. Denker, Merlin, Wieso sieht Heidegger gerade in der Störung eine Offenbarung von Zeug?, www.merlindenker.de, 2021, 1.
[155] vgl. Schnegg, M., a. a. O., 14.
[156] vgl. Bärthlein, Karl, Zum Verhältnis von Erkenntnistheorie und Ontologie in der deutschen Philosophie des 18. Und 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Geschichte der Philosophie, 56/3, 2009
[157] Heidegger, M, a. a. O., 13. Adorno kommentiert das so: „Die Fundamentalontologie entzieht sich nicht zuletzt darum, weil von ihr ein der Methodologisierung der Philosophie entstammendes Ideal von ‚Reinheit‘ – das letzte Bindeglied war Husserl –, als Kontrast des Seins zum Seienden, aufrecht erhalten, dennoch aber gleichwie über Sachhaltiges philosophiert wird.“ (Adorno, T. W., 1966, 82).
[158] Husserl, E., 1913-2, 159.
[159] Kocyba, H,. , Wesenslogik und Gesellschaftskritik: Karl Heinz Haag und Hans-Jürgen Krahl, in: Kern, Peter, Kritische Theorie als Metaphysik: Karl Heinz Haag - Studien und Kommentare, 2025, 148
[160] Heidegger, M., a. a. O., 27.
[161] Hegel, G. W. F., TWA 4, 560.
[162] a. a. O., 442.
[163] Husserl, E., 1913-1, 110. Herzog und Graumann betonen nicht zufällig, dass die „Phänomenologie … sich … in ihren Anfängen als Wesenswissenschaft in Abhebung zu den Tatsachenwissenschaften“ verstand. (Herzog, M. & C. F. Graumann, a. a. O., X).
[164] vgl. Engels, F., Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, 1895
[165] Husserl, E., a. a. O:, 101 f.
[166] a. a. O., 110.
[167] a. a. O., 111
[168] a. a. O., 113
[169] vgl. z. B. Hegel, G. W. F., TWA 3, 203 und TWA 9, 288 und 419 ff.
[170] Der Autor kann sich auch persönlich nicht vorstellen, das „eidos“ einfach übersehen zu haben, als er Ende der 1970er Jahre ein gutes Drittel der 20 TWA-Bände, darunter die dreibändige Encyklopädie, für das Register „verschlagwortete“.
[171] Husserl, E., a. a. O., 101 f.
[172] a. a. O., 101 f.
[173] a. a. O., 104.
[174] a. a. O., 108.
[175] a. a. O., 109.
[176] a. a. O., 110.
[177] Adorno kommentiert das wie folgt: „Indem Husserl das subjektive Element, Denken, als Bedingung der Logik unterschlägt, eskamotiert er auch das objektive, die in Denken unauflösbare Materie des Denkens. An ihre Stelle tritt das unerhellte und darum zur Objektivität schlechthin aufgespreizte Denken: der logische Absolutismus ist, ohne es zu ahnen, von Anbeginn an absoluter Idealismus. Einzig die Äquivokation des Terminus ‚Gegenstand überhaupt‘ erlaubt es Husserl, die Sätze der formalen Logik, als Gegenstände ohne gegenständliches Element zu interpretieren. So wird der Mechanismus des Vergessens zu dem der Verdinglichung. Nutzlos die Berufung auf die Hegelsche Logik, der das abstrakte Sein zum Nichts werde, so wie beim Hussserlschen ‚Gegenstand überhaupt‘. Das Hegelsche ‚Seyn, reines Seyn, – ohne alle weitere Bestimmung’ ist nicht mit der obersten Substraktionskategorie ‚Gegenstand überhaupt‘ zu verwechseln.“ (Adorno, T. W., 1970, 74)
[178] Husserl, E., a. a. O., 113
[179] Husserl, E., 1913-2, 147
[180] Hegel benutzt den Ausdruck „Sinn“ im ersten Band seiner Vorlesungen über die Ästhetik, wo er die echte Betrachtungsweise des Schönen in der Natur als sinnvolle Anschauung der Naturgebilde bezeichnet. (Hegel, G. W. F., TWA 13, 173)
[181] Heidegger, M., a. a. O., 1
[182] a. a. O., 27 f.
[183] a. a. O.
[184] Adorno, T. W., 1966, 104 f.
[185] a. a. O., 1966, 105.
[186] Heidegger, M., a. a. O., 3.
[187] a. a. O., 4.
[188] a. a. O.
[189] a. a. O., 12.
[190] a. a. O.
[191] vgl. Holzhey, H., 1991, 4.
[192] Heidegger, a. a. O., 6 f.
[193] vgl. Wikipedia, „Sein und Zeit“, www.de.wikipedia.org/wiki
[194] Heidegger, a. a. O., 52 f.
[195] „Unter immanent gerichteten Akten (intentionalen Erlebnissen, E. S.) … verstehen wir solche, zu deren Wesen es gehört, dass ihre intentionalen Gegenstände, wenn sie überhaupt existieren, zu demselben Erlebnisstrom gehören wie sie selbst. … Transzendent gerichtet sind intentionale Erlebnisse, für die das nicht statthat; wie z. B. alle auf Wesen gerichteten Akte …“ (Husserl, E., 1913-2, 157) Reines Bewusstsein ist für Husserl ausschließlich das transzendentale. (a. a. O., 142 ff.)
[196] Heidegger, a. a. O., 52 f.
[197] a. a. O.
[198] a. a. O., 54 f.
[199] a. a. O.
[200] zitiert nach Wikipedia, „Terminologie Heideggers“, www.de.wikipedia.org/wiki
[201] Waldenfels, B., 1991, 76
[202] Auf deren persönliches und politisches Verhältnis werden wir im fünften Kapitel zuurückkommen.
[203] „‚Phänomenologie’ bezeichnet eine an der Jahrhundertwende in der Philosophie zum Durchbruch gekommene neuartige deskriptive Methode und eine aus ihr hervorgegangene apriorische Wissenschaft welche dazu bestimmt ist, das prinzipielle Organon für eine streng wissenschaftliche Philosophie zu liefern und in konsequenter Auswirkung eine methodische Reform aller Wissenschaften zu ermöglichen.“ (Husserl, E., 1927, 196).
[204] a. a. O., 98, 131, 33
[205] Husserl, E., 1913-2, 142
[206] Husserl selbst spricht in „Die Idee der Phänomenologie“ zur Kennzeichnung seiner Methode von einer Denkhaltung. (Husserl, E., 1986 [2016], 22)
[207] Husserl, E., 1913-2, 146
[208] a. a. O., 140
[209] a. a. O., 142
[210] a. a. O.
[211] a. a. O., 143
[212] Der deutsche Philosoph Walter Jaeschke (1945-2022) interpretiert Hegel wie folgt: „Durch bloßes Zusehen entsteht bekanntlich keine Wissenschaft.“ (Jaeschke, W., 2020, 58)
[213] Husserl, E. 1986 (2016), 18 f.
[214] a. a. O., 20.
[215] a. a. O.
[216] a. a. O., 21.
[217] a. a. O., 27.
[218] a. a. O., 29.
[219] a. a. O.
[220] Supp, E., 2024
[221] vgl. dazu Barrett, L.F., 2017, Barrett, L.F., 2021 sowie Hawkins, J. und R. Dawkins, A Thousand Brains: A New Theory of Intelligence, 2021.
[222] vgl. dazu: “„Keine Unmittelbarkeit, auch kein Faktisches, in dem der philosophische Gedanke der Vermittlung durch sich selbst zu entrinnen hofft, wird der denkenden Reflexion anders zuteil denn durch den Gedanken.“ (Adorno, T. W:, 1970, 16
[223] Adorno, ‚T. W., a. a. O., 35 f.
[224] Herzog, M. & C. F. Graumann, a. a. O., XV.
[225] Kümmel, F., Zum Verhältnis von Phänomenologie und Hermeneutik, 2003, 6.
[226] Husserl, E., 2021, 12.
[227] Kuhn, T., The Structure of Scientific Revolutions, 1962.
[228] s. den bereits zitierten Text der Encyclopaedia Britannica, Husserl, E., 1927, 196
[229] Was auch Waldenfels bescheinigt: „… wobei Reduktion wörtlich zu verstehen ist als Rückführen von xxx auf xxx. Dabei antwortet die eidetische Reduktion auf „wie“ das ‚als etwas‘ zu denken ist, während die transzendentale Reduktion erklärt, wie sich die Differenz von ‚etwas‘ und ‚als etwas‘, von Was und Wie ihrerseits denken lässt … Eidetische Reduktion besagt Rückführung des tatsächlich Gegebenen auf sein Eidos, sein Wesen, das heißt Rückführung auf eine Grundgestalt, die selbst der Erfahrung zu entnehmen ist.“ (Waldenfels, B., 1991, 72
[230] An dieser Stelle erscheint die Aussage von Merleau-Ponty, jede Reduktion sei zwangsläufig transzendental und eidetisch, zumindest diskussionswürdig. (vgl. dazu Merleau-Ponty, M., 1945, 15)
[231] Husserl, E., 1913-2, 147.
[232] Husserl, 1927, 201.
[233] a. a. O.
[234] a. a. O., 204.
[235] Adorno, wie bereits zitiert: „Indem Husserl das subjektive Element, Denken, als Bedingung der Logik unterschlägt, eskamotiert er auch das objektive, die in Denken unauflösbare Materie des Denkens. An ihre Stelle tritt das unerhellte und darum zur Objektivität schlechthin aufgespreizte Denken: der logische Absolutismus ist, ohne es zu ahnen, von Anbeginn an absoluter Idealismus. Einzig die Äquivokation des Terminus ‚Gegenstand überhaupt‘ erlaubt es Husserl, die Sätze der formalen Logik, als Gegenstände ohne gegenständliches Element zu interpretieren. So wird der Mechanismus des Vergessens zu dem der Verdinglichung. Nutzlos die Berufung auf die Hegelsche Logik, der das abstrakte Sein zum Nichts werde, so wie beim Hussserlschen ‚Gegenstand überhaupt‘. Das Hegelsche ‚Seyn, reines Seyn, – ohne alle weitere Bestimmung’ ist nicht mit der obersten Substraktionskategorie ‚Gegenstand überhaupt‘ zu verwechseln.“ (Adorno, T. W., a. a. O., 74). Und dann wieder: „Alle prima philosophia bis zu Heideggers Anspruch der ‚Destruktion‘ war wesentlich Residualtheorie; Wahrheit soll sein, was übrig bleibt … das Allerschalste. Der ‚Inhalt auch von Husserls phänomenologischem Residuum ist ganz dürftig und leer und wird dessen überführt, sobald die Philosophie, wie in den soziologischen Exkursen der Cartesianischen Meditationen, auch nur den kleinsten Schritt wagt, um aus dem Gefängnis des Residuums ins freie Leben sich zurückzubegeben.“ (Adorno, T. W., a. a. O., 23, ähnlich auch in Adorno, T. W., 1966, 79). Vgl. bei Husserl „Einsicht, dass Bewusstsein in sich selbst ein Eigensein hat, das in seinem absoluten Eigenwesen durch die phänomenologische Ausschaltung nicht betroffen wird. Somit bleibtes als ‚phänomenologisches Residuum‘ zurück, als eine prinzipiell eigenartige Seinsregion, die in der Tat das Feld einer neuen Wissenschaft werden kann – der Phänomenologie.“ (Husserl, 1913-2, 145).
[236] vgl. Husserl, E., Wesenserschauung durch eidetische Variation (Erfahrung und Urteil, 1-4, 86-89), 1938, in: Husserl, Edmund, 2021 (2024).
[237] Husserl, E., a. a. O., 101 ff.
[238] Husserl, E. 1938, 255.
[239] a. a. O.
[240] a. a. O.
[241] a. a. O.
[242] a. a. O., 256.
[243] a. a. O.
[244] a. a. O., 256 f.
[245] Hegel, G. W. F., TWA 3, 24.
[246] a. a. O., 442.
[247] Husserl, E., 1977 (1992), 45,
[248] Schnegg, M., a. a. O., 4
[249] Kohl, K.-H., Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden, 1993 (2000)
[250] Herzog, M. & C. F. Graumann, a. a. O., XIII ff.
[251] „Given that Husserl viewed phenomenology as a philosophy of continual beginnings, it is quite possible to argue, however, that there are as many phenomenologies as there are phenomenologists.” (Desjarlais, R. & J. C. Throop, a. a. O., 95).
[252] a. a. O., 96.
[253] Bernet, R., 2023.
[254] „Phenomenology developed iin Germany at the turn of the 20th century thirough the works of Edmund Husserl, Martin Heidegger, Edith Stein, Max Scheler, and others…” (Schnegg, M., a. a. O., 2)
[255] Desjarlais, R. & C. J. Throop, a. a. O., 89: „Despite Geertz’s occasional (and ambivalent) forays into phenomenology, he was not the only, or even the first, anthropologist to attempt to apply phenomenology to ethnografic concerns.“
[256] Micheelsen, A., “I don’t do systems” – An Interview with Clifford Geertz, in: Method and Theory in the study of Religion, 2002: „I don’t do systems“ und „phenomenological analysis … is not the focus of my concern.”
[257] Geertz, C., The Interpretation of Cultures, 1973 (2016), 454
[258] a. a. O.
[259] s. dazu Bernet, R. 2023, der eine interessante Unterscheidung der phänomenologischen Varianten vornimmt: Transzendentale Phänomenologie (Husserl, Fink, Tymieniecka, Zahavi), Existenzielle Phänomenologie (Heidegger, Merleau-Ponty, Sartre), Hermeneutische Phänomenologie (Gadamer, Ricoeur), Ethische Phänomenologie (Levinas, Derrida) und Linguistische Phänomenologie. (Derrida, Foucault)
[260] Geertz, C., a. a. O., 6: „I-am-a-camera, ‚phenomenalistic‘ observation“
[261] Schnegg, M., a. a. O., 8: „… how do we then get to the things as they appear? To get there, Husserl introduces the German term Wesen (essence).”
[262] Zigon, J. & C. J. Throop, a. a. O:, 4: „Phenomenology is thus, as Husserl maintained, not a philosophy of individual subjectivity but an eidetic philosophy, a philosophy that reveals essential structures of experience ...” „… has as its exclusive concern, experiences intuitively seizable and analyzable in their pure essential generality, not experiences empirically perceived and treated as real facts.”
[263] Desjarlais, R, & C. J. Throop, a. a. O., 88: „Phenomenology: the study of phenomena as they appear to the consciousnesses of an individual or a group of people, the study of things as they appear in our lived experiences.”
[264] Wie bereits zitiert: „Erscheinung als Erscheinung ‚von etwas‘ besagt demnach gerade nicht: sich selbst zeigen, sondern das Sichmelden von etwas, das sich nicht zeigt, durch etwas, was sich zeigt. Erscheinen ist ein „Sich-nicht-zeigen‘.“ (Heidegger, M., a. a. O., 29)
[265] Desjarlais, R, & C. J. Throop, a. a. O., 92: „Many anthropologists have found great utility in phenomenological methods in anthropological inquiry.”
[266] a. a. O.: „… the call for radical empiricism … and the bracketing of cultural and natural attitudes …”
[267] „..how do we then get to the things as they appear? To get there, Husserl introduces the German term Wesen (essence) …” (Schnegg, M., a. a. O., 8).
[268] “If we look at the phenomenon from all possible perspectives and take into account all possible appearances, some basic characteristics remain unchanged, these constitute its essence or core of identity” (a. a. O.).
[269] „While Husserl’s techniques are laborious practices to get rid of assumptions (epoché) and to work towards the essence of things (free imaginative variation), Heidegger proposes a more relaxed methodology“(a. a. O.)
[270] Herzog und Graumann sprechen gleich von mindestens sechs verschiedenen phänomenologischen Methoden: Deskription, Intuition, Introspektion, Experiment, Ideation … Das spezifisch Phänomenologische erschließt sich nur schwer (Herzog, M. & C. F. Graumann, a. a. O., X).
[271] Supp, E., 2024.
[272] Schnegg, M., 2023, 263: „Without hammering to get nails into the wall, we have no hammers.”
[273] vgl. Adorno, T. W., 1970, 45. Wie bereits zitiert: „Der Schein des Konkreten beruht auf der Verdinglichung von Resultaten, nicht unähnlich der positivistischen Sozialwissenschaft, welche die Produkte gesellschaftlicher Prozesse als letzte hinzunehmende Tatsachen verzeichnet.“ (a. a. O., 44)
[274] Geertz, C., a. a. O., 9: „… what we call our data are really our own constructions of other people’s constructions of what they and their compatriots are up to…”
[275] Bei Schnegg klingt das Problem der Vorurteilie eher wie eine harmlose, subjektive Verirrung. Er spricht von „more or less implicit presuppositions“ und von „beliefs and presuppositions” (Schnegg, M., a. a. O., 7).
[276] Desjarlais, R. & C. J. Throop, a. a. O., 89: „Accordingly, one of the main aims of anthropologists drawing from phenomenological methods has been to bracket the assumptions that come from their own cultural and theoretical heritages …”
[277] Desjarlais, R. & C. J. Throop, a. a. O., 91: „ the facts that the world before us is held to be the same shareable world that we mutually inhabit, that others are recognized as experiencing beings who orient and abide to the same shareable world as we do …”
[278] Schnegg, M., a. a. O., 18.
[279] Geertz, C., a. a. O., 9: „Analysis, then, is sorting out the structures of signification.”
[280] Schnegg, M., 2021, 261: „Phenomenology ist a theoretical approach to explore a phenomenon from the myriad perspectives of those who have experienced it.”
[281] Zigon, J. & J. Throop, a. a. O.: „… Husserl’s famous call to return ‚back to the things themselves’ (zurück zu den Sachen selbst!) was a commitment to examine any and all phenomenona as they show themselves.”
[282] Schnegg, M., 2023, 5 f.: „What things appear as in a situation ist a combination of how they appear and the societal context.”
[283] Geertz, C., a. a. O.: “scientific explanation does not consist … in the reduction of the complex.”
[284] Adorno, T. W., 1966, 82.
[285] Schnegg, M., 2023, 13: „Critics claim that his political inclinations reveal inherent problems in his philosophy, whereas supporters argue that political and philosophical engagements can be separated. Keeping in mind the problematic aspects of his thinking, I nevertheless wish to critically engage and develop another aspect of his work, namely our being-in-the-world.“
[286] Adorno, T. W., a. a. O., 76
[287] Wikipedia „Philosophie im Nationalsozialismus“, www.de.wikipedia.org/wiki
[288] Wikipedia, a. a. O.
[289] Sölter, A.: Mirrors of Evil. Cultural Criticism, critique of modernity, and Anti-Semitism in Heidegger’s Thought. In: Pedersen, Daniel: Cosmopolitism, Heidegger, Wagener – Jewish Reflections, 2017, zitiert nach Wikipedia, a. a. O.
[290] Wikipedia, a. a. O.
[291] Adorno, T. W., a. a. O., 79. Vgl. auch. “Der Faschismus suchte die Ursprungsphilosophie zu verwirklichen. Das Älteste, das was am längsten da ist, sollte unmittelbar, buchstäblich herrschen. Damit rückte das Usurpatorische am Ersten grell ins Licht. Blut und Boden, die faschistisch konkretisierten … wurden selbst schon in Hitlers Deutschland zum Kinderspott. Die Identität von Ursprünglichkeit und Herrschaft lief darauf hinaus, dass wer die Macht hat, nicht bloß der Erste, sondern auch der Ursprüngliche sein sollte. Als politisches Programm geht die absolute Identität über in die absolute Ideologie, die keiner mehr glaubt.“ Adorno, T. W., 1970, 28.
[292] https://www.youtube.com/watch?v=mqSSzgg5eio
[293] Weischenberg, S., Schuld und Geheimnis – Bekenntnisse von ‚Medien-Legenden´ in der Welt von gestern, zitiert nach dem Manuskript 2025, 472.
[294] Adorno, T. W., 1966, 69.
[295] Held, K., a. a. O., 6.