Ein Quantum Wissen

Eine Rezension von Eckhard Supp

letzte korrigierte Fassung vom 12.5.24, 16h54

Die sozialen Medien machen dumm! Sagen viele, die glauben, es wissen zu müssen. Das mag teilweise sogar stimmen, aber kürzlich stolperte ich im Facebook-Eintrag eines Freundes über ein Zitat, das wirklich zum Nachdenken, sogar zum gründlichen Nachdenken anregte: „Es gibt nur eine Wahrheit, aber jeder hat seine eigenen Lügen“, las ich da, und meine spontane, erste Überlegung war, dass bei einer solchen Aussage, einem solchem Gedanken, der noch vor wenigen Jahrzehnten wie eine Binsenwahrheit geklungen haben könnte, so manch moderne Wissenschaft, so mancher Forschende wohl epistemologischen Schluckauf bekäme. Nur eine Wahrheit? Wirklich nur eine?

Ich habe die Frage nach der „einen Wahrheit“ schon in meinem Essay über die expistemologischen Probleme der Ethnologie („Fremder, quo vadis?“) angeschnitten, aber Probleme mit solcherart Aussagen dürften vor allem die Protagonisten der theoretischen Physik, genauer der theoretischen Teilchenphysik haben – Stichwort: Teilchen vs. Welle. Um so erfreulicher ist es, dass Springer Nature vor einigen Monaten gleich drei,  allerdings sehr unterschiedliche Neuerscheinungen zum Thema auf den Markt brachte, in denen auch die erkenntnistheoretischen Aspekte nicht zu kurz kommen.[1]

Jenseits des Menschenverstands

Fangen wir mit dem anspruchsvollsten der drei an, das vor allem für fachliche Laien, wie ich selbst es bin, über weite Strecken physikalische Hardcore sein dürfte, den Titel „Faszinierende Teilchenphysik“ trägt und von einem renommierten Autor(inn)enkollektiv verfasst wurde. Zwar bemühen sich die Autoren in der Einleitung, eventuelle Berührungsängste potenzieller Leser zu zerstreuen: „Daher sind notwendigerweise einige Artikel keine leichte Kost, worauf wir manchmal auch explizit hinweisen. Wir möchten Sie ermutigen, trotzdem weiterzulesen. Auch ohne jeden Artikel im Detail verstanden zu haben, sollten sich die späteren Inhalte, aufgrund der modularen Struktur des Buches, größtenteils unabhängig von anderen erschließen.“[2]

Aber für den Laien kann trotz dieses Versuchs „… die Sachverhalte zwar korrekt darzustellen, dabei jedoch den eigentlich notwendigen mathematischen Apparat weitgehend außen vor zu lassen“[3], die Flut an Symbolen, Formeln, Graphen und Graphiken schnell einschüchternd wirken.

Da geht es dann um Elementarteilchen, um die Grundkräfte der Natur, um wissenschaftliche Methodik, die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, die Rolle des Zufalls, Teilchenbeschleuniger und Detektoren, um Statistik und Messunsicherheiten, um Fermionen und Bosonen und immer so fort. Das ganze Programm der Physik eben, wie diese sich seit Max Planck und Albert Einstein geriert.

Dennoch muss man nicht unbedingt Mathematiker oder Physiker sein, um die Lektüre der zahlreichen kurzen Einzelartikel gewinnbringend zu finden. Das liegt vor allem an den zahlreichen Passagen, in denen die erwähnten erkenntnistheoretischen Aspekte der Teilchen- respektive Quantenphysik erörtert werden. Die Probleme fangen dabei schon bei den Basics an. Sind nicht die meisten von uns davon überzeugt, dass wissenschaftlicher Fortschritt darin besteht, dass es gerade in den Naturwissenschaften nur eine Realität, eine Wahrheit gibt? Dass Neues das Alte ersetzt oder zumindest verbessert?

Liest man sich in die Quantenphysik von Bechtle und Kollegen ein, dürfte von dieser unerschütterlichen Überzeugung nicht viel bleiben. Sagen auch die Autoren: „Die Welt im Kleinen funktioniert ganz anders als die Welt im Großen“[4]. Und weiter: „(es) ist … aber natürlich angemessen, Newtons Theorie bei nahezu allen Anwendungen des Alltags und der Technik zu verwenden, denn sie leistet natürlich unter fast allen Bedingungen eine hinreichend genaue Beschreibung der Natur.“[5] Was soviel heißt, dass es auf der einen Seite die uns bekannte, gegenständliche Welt gibt, die den durch Newton formulierten Gesetzen gehorcht, und auf der anderen Seite die Welt Plancks, Einsteins und der vielen Quantentheoretiker – zwei Realitäten und zwei Naturgesetzlichkeiten, über deren Kompatibilität sich die Gelehrten jetzt schon seit mehr als hundert Jahren die Köpfe zerbrechen.

Schuld ist, glaubt man Bechtle und Co., die Gravitation, die „… noch nicht Teil des Standardmodells (der Quantenphysik, E.S.) ist“[6] und die sich nicht so recht in den Rahmen der Quantenidee fügen will: „… hier wäre dann eine Quantengravitation notwendig, für die es noch keine Theorie gibt“[7]. Was die Forscher zum Schluss bringt, dass „… das Standardmodell nicht die lange gesuchte wirklich fundamentale Theorie ist, denn es gibt Phänomene, die es nicht erklären kann.“[8]

Wo es zwei Welten und zwei Wahrheiten gibt, muss man wohl auch den Glauben an die eine, einheitliche wissenschaftliche Methode hinterfragen. Sagen jedenfalls Bechtle & Co.: „Es gibt nicht die eine wissenschaftliche Methode ... Das liegt in der Natur der Wissenschaft, in der Fortschritt häufig darauf angewiesen ist, nicht nur Erkenntnisse, sondern auch Methoden kritisch zu hinterfragen, zu überprüfen und häufig auch zu verwerfen.“[9] Und sie betonen, dass „… sie (die Wissenschaft, E.S.) keine Aussage über den „Wahrheitsgehalt“ von Erklärungen von beobachteten Phänomenen machen kann. Stattdessen erschafft die quantitativ arbeitende Wissenschaft mathematische Modelle, die beobachtbare und vorhersagbare Phänomene beschreiben. Wir wissen streng genommen nicht, ob diese Erklärungen in all ihren Aussagen und unter allen Bedingungen der Wahrheit entsprechen, aber wir wissen sehr genau, welche messbaren Eigenschaften ein beobachtbarer Vorgang hat und welche Theorien diesen Vorgang in Übereinstimmung mit den Messdaten beschreiben.“ „So ist es auch in der Teilchenphysik: Ein Modell ist gut, wenn es mit möglichst einfachen Annahmen alle Messungen quantitativ genau beschreibt, aufgrund derer es konstruiert wurde, und grandios, wenn es neue Vorhersagen macht, die noch nie vorher experimentell untersucht wurden und erst nach Erschaffung des Modells experimentell bestätigt werden!“[10] Oder auch nicht, füge ich hier schon einmal hinzu.

Das stellt unsere Vorstellung von Wissenschaft – man macht (empirische) Experimente und zieht daraus Schlüsse, konstruiert theoretische Modelle – einigermaßen radikal in Frage. Und deshalb ist es auch nicht verwunderliich, dass wesentliche Aspekte der modernen theoretischen Physik mithilfe mathematischer Operationen zunächst ohne empirischen, experimentellen Beweis entwickelt wurden. „Dabei muss die Teilchenphysik auch immer wieder mit Situationen leben, in denen es gar kein wirklich alles erklärendes Modell gibt, da es noch nicht gelungen ist, ein einzelnes Modell zu konstruieren, das wirklich alle Messungen richtig beschreibt. Das ist aber keine Krise und kein Nachteil von Naturwissenschaft, sondern ihr Normalzustand“ und „eine nicht mit einer gut fundierten Vorhersage übereinstimmende Messung … (ist) also nicht etwa ein Scheitern der Wissenschaft …, sondern einer ihrer wichtigsten und schöpferischsten Vorgänge!“[11]

Mathematische Modelle und kreative Konstruktionen sind demnach die Essenz der theoretischen Physik. Und das schon von Anbeginn an. Ein Beispiel: „‚Gesehen‘ wurde der Atomkern als schweres punktförmiges Objekt im Atom das erste Mal … in der Vorstellungskraft von Ernest Rutherford. „Real“ ist der Atomkern dadurch, dass die Physik durch ihn Experimente sehr genau erklärt, und nicht dadurch, dass er direkt für uns Menschen „sichtbar“ ist … „Daher sind die Vorstellungen der modernen Physik nicht einfach nur Formeln ohne jede weitere dahinterliegende Bedeutung für die Realität. Wichtig für die Fortentwicklung der Vorstellung fundamentaler Bausteine ist die Vorstellung der Repräsentation ...“[12]

Auch wenn alles, was hier referiert wurde, dem gesunden Menschenverstand diametral entgegenzustehen scheint, wenn „… wissenschaftliche Theorien also nie letztendlich als „wahr“ gelten können, sind sie doch das Gegenteil von willkürlich.“[13] Ein Fazit, das auch viele der anderen Publikationen ziehen, die in den letzten Jahren zum Thema erschienen sind.

Das setzt natürlich auch ein großes Fragzeichen hinter die über-optimistische Hoffnung, wie sie in den ersten Seiten des Buches zu lesen ist: „Woher kommen wir? Wie hat alles begonnen und wie hat es sich entwickelt? Wie entstand das Universum? Woraus besteht Materie? Fragen, die die Menschheit seit jeher bewegt haben und die wir dank unserer Forschung heute teilweise sogar beantworten können.“[14] Können wir diese Menschheitsfragen, wie die nach dem Anfang, dem Unendlichen, dem Sinn des Seins wirklich beantworten, und sei’s auch nur teilweise? Zweifel sind gestattet.

Quanten-Lego

Dass die Quantenphysik vor allem denen ein Rätsel sein kann, die sich nur auf ihren gesunden Menschenverstand verlassen, dürfte inzwischen kein Geheimnis mehr sein. In diesem Sinne soll sich wohl auch der Titel der zweiten der drei Neuerscheinungen verstehen: „Das Quantenrätsel“. Dass die Angaben des Verlagsmarketings, es handele sich dabei um eine  „allgemeinverständliche Einführung in die Quantenphysik“ und zugleich um einen „unterhaltsamen Science-Fiction-Roman“, wirklich zutreffen, würde ich allerdings nicht unterschreiben.

Der Kern der Geschichte, von der man Mühe hat, zu erkennen, ob sie eine wirkliche „story“ ist, läuft ungefähr so: Im Jahre 2119 startet die UNO ein auf mehr als hunderttausend Jahre angelegtes Forschungsprogramm – wie (oder nach?) Mark Frosts Fantasythriller Paladin Project benannt, in dem der Held in den Kampf zwischen Guten und Bösen gerät –, im Rahmen dessen die Menschheit unzählige, sich selbst replizierende Sonden aussendet, die, bzw. deren Replikate innerhalb von 210.000 Jahren auch die letzten Sterne bzw. Planetensyteme der Milchstraße erreichen werden. Sie sollen diese erkunden und gleichzeitig die dort existierenden Intelligenzen mit dem Wissen konfrontieren, das die Menschheit besitzt. „Die Welt war Wissen. Natürlich war sie das.“[15] Wobei, hatten wir nicht gerade erst bei Bechtle & Co. gelesen, dass die Welt, zumindest die Quantenwelt, um die es ja offenbar geht, mindestens genauso viel Nichtwissen „sein“ soll?

Wie dem auch sei – Sci-Fi-Fakt ist, dass dieses Wissen oder Nichtwissen in Sondenform zwei Intelligenzen, sprich Bewohnern weit entfernter Sonnensysteme, vor die sprichwörtlichen Füße fällt. Welch ein Zufall, dass eine der beiden ein „Steinling“ namens T’lik’tik ist – „Die Welt war Stein. Natürlich war sie das“[16] –, während die andere, sSsuuaSsaaWaSseaana genannt, im Wasser lebt[17] Denn, hurra! Wir sind da wo wir ankommen wollten, in der Quantenphýsik, deren ganzes Denken sich – fast jedenfalls – um die Frage Teilchen oder Welle dreht. Genauer, um zu Staubkörnchen, pardon -teilchen zermahlenen Stein und um die Bewegungslinien des Weltenmeeres – „Die Welt war Wasser. Natürlich war sie das.“[18] Welch ein Zufall!

Welch ein Glück auch, dass unsere beiden Intelligenzen sofort und ohne groß nachzudenken, anfangen können, sich mit den von der Menschheit vorbereiteten Spielen oder Experimenten auseinanderzusetzen. Und dass wir schon vergessen haben, dass die Quantenphysik mit dem gesunden Menschenverstand gar nicht zu fassen ist, wie Bechtle & Co. schreiben. Dass die Quantenmechanik eine Angelegenheit der „kleinen“ Welt ist, während es im Buch ja um Steinwüsten und Weltmeere der „großen“ Welt geht. Oder trifft das vielleicht bei Steinlings-Intelligenzen nicht zu?

Ein Fels konnte natürlich zerschlagen oder zerrieben werden, zu kleinen Körnern, die wie Sand waren; eine Platte aus Schiefer ließ sich leicht spalten. Die Schieferplatte bestand aus vielen kleinen Körnern, die zusammenhielten ...“ deduziert Steinling T’lik’tik mit einem schiefen Bild Elementarteilchen aus seiner Steinwüste, ein Bild, das suggerieren könnte, Elementarteilchen seien sinnlich wahrnehmbar.[19] „Alles in derWelt bestand aus solchen kleinsten Körnchen und war daraus zusammengesetzt, das erschien T’lik’tik vollkommen klar.“[20]

Nach der Landung der „Himmelssteine“, sprich Sonden, liest sich der weitere Fortgang ein wenig wie die Gebrauchsanweisung eines Lego- oder fischertechnik-Baukastens. Genauso „spannend“ jedenfalls. Und voll unwahrscheinlicher (s.o.) Entdeckungen:: „Es schien so zu sein, als bestünde das Licht aus dem Zylinder tatsächlich aus kleinen, unteilbaren Stücken, aus Körnchen. Bei jedem Aufleuchten des Zylinders wurde genau ein solches Körnchen ausgesandt.“[21] Zu beurteilen, ob das Ganze für Sci-Fi-Freunde doch noch irgendw spannend und anregend sein kann, übersteigt meine Kompetenz in der Materie, womit wir, last but not least, bei der letzten Buchvorstellung angelangt wären.

Wirkliche Grenzen

Grenzen der Wirklichkeit – Kosmologie, Quantenwelten und die Suche nach der Unendlichkeit“ lautet der komplette Titel des Buches von Jörg Resag, das insgesamt vor allem für Laien die wohl Lohnendste der drei Neuerscheinungen sein dürfte, obwohl der Untertitel etwas zu sehr nach Marketingsprech klingt. Es ist wohltuend sachlich, umfassend und für jeden Interessierten verständlich geschrieben.

Auch hier stoßen wir wieder auf die ontologischen und epistemologischen Fragestellungen des Buches von Bechtle & Co. wobei es Resag über weite Strecken nicht nur um die „ganz kleine“ Quantenwelt geht, sondern um die übergroße Welt, das ganze Universum und was es darüber hinaus noch geben mag. Die Menschheitsfrage schlechthin, auf die wir bei Bechtle & Co. schon gestoßen waren, und in der die Quantenphysik wieder relevant wird – „Woher kommen wir? Wie hat alles begonnen und wie hat es sich entwickelt? Wie entstand das Universum“[22] – taucht bei Resag in der Erörterung des Urknalls wieder auf.

War dieser Moment, dieser Urknall (Big Bang), wie er von dem britischen Astronomen Fred Hoyle im Jahr 1949 in einer BBC-Radiosendung sehr eingängig genannt wurde, gar der Anbeginn der Zeit selbst?“[23] und „Haben wir damit den Anbeginn der Zeit entdeckt? Hat Gott die Welt in einem heißen Urknall aus einem explodierenden kosmischen Ei unendlicher Dichte und Temperatur erschaffen …? Aber was war dann vor dem Urknall? Oder ist diese Frage sinnlos, weil es vor dem Urknall gar keine Zeit gab?“[24] Was mich erneut nicht nur zu der Frage bringt, wie die australischen Aborigines ganz ohne Physik und Mathematik ein Modell von der Entstehung der Welt entwickeln konnten, das der Theorie des Big Bang so erstaunlich ähnelt[25], sondern auch, was an unseren Modellen Realität, real existierendes Naturgesetz ist, was dagegen vom menschlichen Geist über diese Realität gelegte Strukturen, Modelle sind.

Gehorcht die Welt einheitlichen Naturgesetzen, die vielleicht sogar in deterministischer Strenge schon im Moment des Urknalls das Schicksal jedes einzelnen  Atoms vorbestimmt waren – was Philosophen gerne nach der menschlichen Entscheidungsfreiheit suchen lässt. Oder spielt der Zufall zumindest auf der quantenmechanischen Ebene eine viel größere Rolle, als wir meist wahrhaben wollen? „Was“, so fragt Resag, „veranlasst ein Uranatom eigentlich, irgendwann zu Blei zu zerfallen? Nach heutiger Auffassung lautet die Antwort: gar nichts! Der Zerfall ist ein quantenmechanischer Zufallsprozess und niemand kann bei einem Uranatom vorhersagen, wann es zerfallen wird.“[26]

Und heißt das, dass unsere gesamte Welt sich früher oder später in Wohlgefallen auflöst? „Es sieht also ganz so aus, als ob der Zahn der Zeit vor fast nichts Halt macht. Alle Atome werden ihm wahrscheinlich zum Opfer fallen, und am Ende bleibt nichts übrig als ein Hauch leichter Teilchen wie Elektronen, Photonen und Neutrinos, die sich in den unendlichen Weiten des Alls verlieren …“[27] Oder noch elementarer: Können wir überhaupt feststellen, ob unsere Welt endlich oder nicht doch unendllich ist? Immerhin entzieht sich heute, errechnete 13,7 Mrd Jahre nach dem theoretisch bestimmten Urknall, schon ein Gutteil unseres Universums schlicht unserem Bllick, lange bevor sich die Frage „endlich-unendlich“ überhaupt stellt?

Denn „… unser beobachtbares Universum … (ist) in jedem Fall endlich, und das Fortsetzen des Raums gleich alter Galaxien bis ins Unendliche findet im Wesentlichen in unserer Vorstellung statt.“[28] Was daran liegt, dass sich die Ausehnung des Raums mit mehr als Lichgeschwindigkeit vollzieht und Lichtphotonen die heute ausgesendet werden, gar nicht mehr zu uns gelangen können. Bildlich gesprochen, fliegen wir aufgrund dieser Expansion schneller von fernen Galaxien weg, als deren Lichtsignale uns hinterher fliegen können.[29] Resag bezieht sich dabei auf Kant, der die Frage nach der Endlichkeit des Raums als „alles Vermögen der menschlichen Vernunft“ übersteigend bezeichnete. „Vielleicht müsste man eher von den Grenzen der Vorstellungskraft sprechen, denn ausgerüstet mit den mächtigen Werkzeugen der Mathematik ist unsere Vernunft sehr wohl in der Lage, die Fesseln der Vorstellungskraft zu sprengen. Kein Mensch kann sich die Raumzeit der Relativitätstheorie wirklich vorstellen, auch Einstein nicht.“[30]

Wahrscheinlich sind die Grenzen unserer Wahrnehmung und unseres Denkens sogar noch unüberwindlicher, als es der geschilderte Gedankengang suggeriert. Allerdings würde eine ausführliche Erörterung der auch durch die moderne Neurowissenschaft gestützten kognitiven Differenz zwischen der Verarbeitung von Abstrakta (hier, das Unendliche oder auch das mathematische Modellieren der Realität) und der Wahrnehmung von Konkreta (endliche Entfernungen, Ausdehnungen, Raum und Zeit als feste Größen, das physikalische Experiment) den Rahmen dieser Rezension sprengen.

Die Grenzen wissenschaftlicher Arbeit, die bei Bechtle & Co. anklangen, gelten natürlich auch für Resag[31], und wenn wir nur dies aus der Beschäftigung mit dessen  Theorie mitnehmen, haben wir mehr geschafft, als es die Dogmatiker „wissenschaftlicher Wahrheiten“ und erkenntnistheoretischer Sicherheiten je leisten werden. Wer allerdings jetzt neugierig geworden ist, dem sei das Resag’sche Buch – wie auch die weiterführende Literatur, die in den letzten Jahren erschienen ist, wärmstens empfohlen.[32]

[1] Bibliographische Angaben:

Bäker, Martin, Das Quantenrätsel – Ein Science-Fiction-Roman zur Quantenmechanik, Wiesbaden 2023

Bechtle, Phillip et al., Faszinierende Teilchenphysik – Von Quarks, Neutrinos und Higgs zu den Rätseln des Universums, Wiesbaden 2023

Resag, Jörg, Grenzen der Wirklichkeit – Kosmologie, Quantenwelten und die Suche nach der Unendlichkeit, Wiesbaden 2023

[2] Bechtle et al. 2023, X

[3] a.a.O., IX

[4] a.a.O., 42 f.

[5] a.a.O., 23

[6] a.a.O., 11

[7] a.a.O., 42 f.

[8] a.a.O., 23

[9] a.a.O., 26

[10] a.a.O.

[11] a.a.O., 27

[12] a.a.O., 29

[13] a.a.O., 27

[14] a.a.O., VII

[15] Bäker 2023, 136

[16] a.a.O., 1

[17] a.a.O., 34, „sSsuuaSsaaWaSsea schwamm weiter zur zweiten Öffnung“

[18] a.a.O., 6

[19] a.a.O., 1

[20] a.a.O., 2

[21] a.a.O., 28

[22] Bechtle, et alt., VII

[23] Resag 2023, 37

[24] a.a.O., 58

[25] vgl. den bereits erwähnten Essay „Fremder, quo vadis?“

[26] a.a.O., 58

[27] a.a.O., 71

[28] a.a.O., 142

[29] „Der kosmische Abstand einer Galaxie zu uns, die sich jenseits des Hubble-Radius befindet, wächst also mit Überlichtgeschwindigkeit an. Ein Lichtstrahl, der sich von einer solchen Galaxie in unsere Richtung auf den Weg macht, wird durch die kosmische Expansion von uns weggetrieben. Sein kosmischer Abstand zu uns wird größer, denn der Raum zwischen uns und dem Licht expandiert so schnell, dass das Licht ihn nicht überwinden kann. Wenn das ewig so bleibt, kann der Lichtstrahl uns niemals erreichen. Die Galaxie wäre für uns unsichtbar.“ (a.a.O., 112)

[30] a.a.O., 42 f.

[31] „Dieses Standardmodell gehört zum Allerbesten, was die moderne Physik jemals hervorgebracht hat. Bis heute ist es nicht gelungen, irgendwelche Abweichungen von diesem Modell in der Natur zu finden, sodass es zum absoluten Grundpfeiler der modernen Physik geworden ist. Allerdings bleibt der Wermutstropfen, dass die Gravitation nicht Teil dieses Modells ist und dass weder Dunkle Materie noch Dunkle Energie im Standardmodell erklärt werden können. Allumfassend ist das Standardmodell der Teilchen also nicht.“ (a.a.O., 129) „Das kosmologische Standardmodell kann diese Feinabstimmung der Dichte ebenso wenig erklären wie die gleichmäßige Temperatur der kosmischen Hintergrundstrahlung.“ (a.a.O., 123)

[32] Weiterführende Lektüre:

Gribbin, John, In Search of the Multiverse, Hoboken (N.J.) 2009

Hossenfelder, Sabine Karin Doris, Existential Physics: A Scientist’s Guide to Life’s Biggest Questions, London 2022

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