Schlecht gebrüllt

Eine Rezension von Eckhard Supp

Eigentlich hatte ich mir von Lars Hennings Buch über die Anfänge des Denkens[1] einiges versprochen. Und das nicht nur, weil ich durch eine unerwartete (Spam)-Mail erfuhr, dass der Autor in einer früheren Arbeit[2] zum Thema meinen immerhin schon einige Jahrzehnte alten Text über Australiens Aborigines[3] zitiert hatte. Die Neugier war jedenfalls geweckt, und der Verlag stellte mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung.

Immerhin gewann ich bei der Lektüre von dessen ersten Seiten den Eindruck, dass Hennings Ansatz einer klaren Unterscheidung von biologischer und kultureller – Hennings spricht von historischer – (menschlicher) Entwicklungsgeschichte meinen eigenen Überlegungen entsprach. Dass er sich zumindest implizit auch recht klar sowohl gegen biologistische, im Endeffekt rassistische Interpretationen der menschlichen Evolutionsgeschichte wie auch gegen teleologische abgrenzte, wenn er schrieb: „Bis zum Beginn der Moderne … wird ein Prozess bloß als Veränderung zwischen Zuständen verstanden, implizit mit der teleologischen Vorstellung, es sei im die Veränderung auslösenden Zustand, der Ursache, das Ergebnis dieser angestoßenen Veränderung bereits vorgegeben.“ (Hennings 2021, 23)

Der positive Eindruck sollte allerdings nicht allzu lange anhalten. Und das nicht nur, weil sich die Absage an teleologische Ideen schon wenige Seiten später unter der Hand in Wohlgefallen aufzulösen schien: „Generell blicken wir in der Weltgeschichte auf so etwas wie einen Richtungssinn zum Komplexeren und zur Emanzipation von Naturhaftigkeit ...“ (Hennings 2021, 26), heißt es da plötzlich. Wie komplex, um den Punkt auf die Spitze zu treiben, eine mögliche, nachnukleare Welt aussehen könnte, braucht man wohl nicht wirklich ernsthaft zu diskutieren.

Merkwürdig mutet auch die Rückrechnerei der „historischen“ Evolution bis zu einem fiktiven Anfangspunkt an, der gleichzeitig Endpunkt der „biologischen“ Evolution gewesen sein soll. „Aus dem skizzierten Wissen ergibt sich dennoch, Homo sapiens kann als soziales Wesen, natürlich auf Basis seiner Körperlichkeit, bis zum Beginn des Jung-Paläolithikums soziologisch zurück gedacht und seine (Sozial-)Geschichte durch die Machart der archäologischen Funde empirisch re-konstruiert werden.“ (Hennings 2021, 30) Nun ist eine solche Rückrechnerei in der Wissenschaft nichts Ungewöhnliches. Theoretische Physiker rechnen auf die Art die Entstehungsgeschichte des Universums bis zum Urknall zurück, die klügeren unter ihnen wissen aber auch, dass dieser Ansatz zu einer mathematischen (Modell-)Realität führt, die empirisch noch nicht verifiziert ist. So weise ist Hennings nicht – er hält das (sein) Modell für die Realität.

Stützen soll diese Lesart der beiden Evolutionen die wiederholt aufgestellte Behauptung, die biologische Entwicklung des Homo sapiens sei während der jüngeren Altsteinzeit zu einem Abschluss gekommen. „Eine wesentliche Frage hinsichtlich der Menschwerdung ist … der Zeitpunkt der biologischen Stabilisierung des Gehirns in der Phylogenese“ (Hennings 2021, 34) postuliert der Autor, und schiebt später die Überzeugung nach, „die Basis des Gehirns unserer Art (scheine) tatsächlich seit Jahrtausenden biologisch gleich zu sein; …“ (Hennings 2021, 78) bzw. „… seit vor 35.000 Jahren … biologisch stabilisiert, …“. In Hennings krudem Stil – dazu noch später – liest sich das dann so: „Deshalb kann gesagt werden, die archäologischen Funde und interdisziplinäre Forschung lassen bald nach dem Beginn des Jung-Paläolithikums vor 40.000 Jahren nur eine soziologische Analyse der Geschichte zu, weil seither der Mensch biologisch gleichgeblieben ist und entsprechend seine Fähigkeiten durch Betrachtung seiner Werke analysiert werden können.“ (Hennings 2021, 85)

Am Sinn dieser (fast manichäistischen) Gegenüberstellung „Biologie-Historie“ zweifeln darf man schon allein deshalb, weil es bei den beiden Arten der Evolution um Bewegungen mit vollständig anderen Rhythmen geht, wie Hennings an anderer Stelle selbst einräumt: um eine, deren Resultate in Jahrzehnttausenden oder gar Jahrhunderttausenden wahrnehmbar werden und eine, die in hunderten oder tausenden Jahren misst. Zu behaupten, eine (für Sprache und Kognition relevante) biologische Evolution habe es in den letzten 30.000 oder 40.000 Jahren überhaupt nicht mehr gegeben, ist da wohl schon recht frech und mir ist nicht bekannt, dass eine der von Hennings aufs epistemologische Abstellgleis geschobenen Wissenschaften ein solches Statement unterstützte.

Diese Attitüde relativiert auch die an sich sinnvollen Fragestellungen – „Dabei gilt es als von besonderem Interesse zu re- konstruieren, wie Sprache bei Homo sapiens im Tier- Mensch-Übergang erstmals eigenständig entstehen konnte.“ (Hennings 2021, 31) und „Wie wurde im Tier-Mensch-Übergang aus geistloser Natur der humane Sinn“, (Hennings 2021, 32) –, für die ich bei Hennings letztlich aber keine plausible Antwort gefunden habe.

Überraschend, angesichts der Führungsrolle, die Hennings in diesen anthropologischen Fragestellungen für die (für seine?) Soziologie reklamiert – "Diese Studie sammelt Thesen für eine interdisziplinäre Forschung der Soziologie als Leitwissenschaft zur Erkundung der Steinzeit", heißt es im "abstract" des Verlags (www.peterlang.com), und lässt den staunenden Leser mit der Frage allein, was denn die Rolle von Anthropologie und Archäologie noch sein kann – sind die vielen schwammigen und spekulativen Aussagen. „Dort kam es … vielleicht auch zu ersten Strukturen institutionalisierter Herrschaft. Womöglich gab es Sklavenwirtschaft, spekuliere ich, ...“ heißt es an einer Stelle (Hennings 2021, 95), an anderer dann: „Die beiden Hauptgötter am Göbekli Tepe – spekuliere ich deshalb – stützen kein Dach…“ (Hennings 2021, 102). Und munter zieht sich das durch das gesamte, schmale Bändchen: „darf wohl geschlossen werden“ (Hennings 2021, 43), „nehme ich an“ (Hennings 2021, 28), "haben offenbar“ (Hennings 2021, 28), „nach dieser These“ (Hennings 2021, 30) etc. etc. Wobei, das sei hier annotiert, gar nicht so sehr die spekulativen Statements selbst stören, sondern die teils recht nassforschen Schlussfolgerungen, die aus ihnen gezogen werden.

Vielleicht sind die Lösungen für dieses gesammelte „vielleicht“ und „möglich“ und „glaube ich“ ja irgendwo in der Literaturliste am Ende des Bandes verborgen, aber dann wäre es sowohl hilfreicher für den Leser als auch wissenschaftlich solider gewesen, an dieser Stelle mehr ins Detail zu gehen und dem Leser nicht das Raten zu überlassen, welches der zitierten Werke wo welchen Beleg für die Behauptungen des Autors verbergen könnte.

Selbst wer diesen spekulativen Charakter so mancher der Henningsschen Aussage nicht als störend empfindet, dürfte bei der einen oder anderen Tatsachenbehauptung oder sogar Behauptung ohne Tatsachenbasis ein Stirnrunzeln nicht vermeiden können. So etwa, wenn Hennings behauptet: „Noch einer der letzten bedeutenden Höhlenforscher, Lorblanchet, betont die bemalten Höhlen wie selbstverständlich als Heiligtümer und zieht dabei sogar die australischen Traumzeiten in den Komplex der Höhlenmalerei hinein, die kaum viel älter als die desaströse Kolonialisierung mit der Vertreibung der Ureinwohner¡nnen aus günstigen Umwelten sind, in denen sie durchaus Dörfer bewohnten und Planzungen pflegten.“ (Hennings 2021, 73 f.) Man mag ja der Meinung sein, dass alle, die die australischen Höhlenmalereien für deutlich älter als „die desaströse Kolonialisierung“ halten – darunter ein Team von Damien Finch der Uni Melbourne, das vor wenigen Jahren mehr als 17.000 Jahre alte Malereien datierte[4] –, von ihrem Metier nichts verstehen, aber dann sollte man deren Thesen zumindest mit Fakten widerlegen können.

Wer stattdessen meint, aus der Tatsache, dass es zu bestimmten Epochen wenig Material gibt, sichere Schlüsse ziehen zu können, was zu jener Zeit Fakt war, muss sich den Vorwurf der Kaffeesatzleserei gefallen lassen. Wie Hennings, wenn er schreibt: „Bald wurde klar, es konnte der Beginn des Jung-Paläolithikums als dessen Anfang angenommen werden, weil es noch weiter zurück viel weniger Material gibt, ...“ (Hennings 2021, 25), was ein wenig wie die Verurteilung eines Verbrechers wegen (sic!) Mangels an Beweisen klingt.

Vieles von dem, was Hennings unterstellt, ruht auf den sprichwörtlichen tönernen Füßen, so etwa, wenn er bei der Diskussion von angenommenen Parallelen zwischen Ontogenese (Entwicklung des Kindes) und Phylogenese (stammesgeschichtliche Entwicklung der Lebewesen ganz allgemein) unterstellt, und dann behauptet: „Ein Kind in einer relativ inhaltsleeren Umwelt lernt relativ wenig“ (Hennings 2021, 57). Was, bitte schön, haben wir unter einer inhaltsleeren Umwelt zu verstehen? Da Hennings immer wieder auch versucht, Parallelen zwischen den Menschen der „vor-humanen“ Zeit und rezenten („simplen“) Gesellschaften zu ziehen, sei an dieser Stelle auf die Schwierigkeiten der modernen (!) Ethnologie verwiesen, die immens komplexen australischen Gesellschaftsformen zu entschlüsseln.[5]

Was ich von eurozentrischen Theorien halte, die unsere Schwierigkeiten beim Verständnis außereuropäischer Gesellschaften dadurch lösen wollen, dass man letzteren europäische Modelle und Muster „überstülpt“, habe ich in meinem bereits zitierten Essay ausgeführt. Mit dem Henningsschen lapidaren „Das ist eine eurozentristische Sicht, was denn sonst?“ (Hennings 2021, 37) ist das Problem jedenfalls nicht vom Tisch zu wischen. Mit einem Satz wie „Rezente Urvölker, einfache Gemeinschaften von Wildbeutungs- und Gartenbauer¡nnen, die noch kaum Bekanntschaft mit europäischen Kulturen gemacht hatten, erreichten nicht mehr als traditionales / prä-operatives Denken, solange sie nicht – etwa in Missionen – Schulbildung erhielten“, möchte ich mich gar nicht auseinandersetzen. Er entbehrt nicht nur jeder sachlichen Grundlage, sondern ist auch ein Schlag ins Gesicht für alle, die etwa in Australien unter den unmenschlichen und entmenschlichenden Verhältnissen vieler Missionen leiden mussten.

Hennings teilweise bizarre Statements verlassen vor allem dann gänzlich den  Rahmen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, wenn es um die Religion geht. „Zwei Männer als Zentrum … können wohl für die Frauen nur als Herabsetzung interpretiert werden, immer schon; das ist offenbar einer der Hauptzwecke aller Religion.“ (Hennings 2021, 18) lautet sein Verdikt, das in seiner „simplen“ Pauschalität wohl nicht mal Hardcore-Atheisten so unterschreiben würden. Später schiebt er nach: „Erst danach konnte eine animistische Religiosität hinreichend begründet werden, bevor sich definierte Religionen ausbilden konnten, die ja bis heute als Animismus zu verstehen sind, da Geister sie prägen; und wenn es nur einer sein soll.“ (Hennings 2021, 63)

Aussagen bezüglich möglicher Parallelen zwischen Ontogenese und Phylogenese und merkwürdige Positionierungen der menschlichen Entwicklungsepochen auf der Zeitschiene will ich hier nicht diskutieren, genauso wenig wie die wiederholte, fahrlässige Gleichsetzung von Gesellschaften der frühen Menschheit und so genannten „rezenten Urgesellschaften“ durch den Autor. Das können andere besser als ich.

Nicht umhin komme ich aber, auch wenn das pingelig erscheinen mag, das auf den ersten Blick größte Ärgernis des Henningsschen Werkes zu erwähnen, sein teilweise deutlich gewöhnungsbedürftiges und – um ein beim Autor beliebtes Adjektiv zu benutzen – „simples“ Deutsch.

Das gut zwei Dutzend Mal wiederholte „ab vor etwa 14.000 Jahren“ oder „seit vor 30.000 Jahren“ mag noch als leicht missglückter Manierismus durchgehen, wobei man bei einem Satz wie „Später – in meiner Studie ab vor 30.000 bis 20.000 Jahren angenommen – wurden mit wachsender Kognition und besserer Lautbildung diese Geistwesen mit Namen geordnet“ (Hennings 2021, 63) schon überlegt, nach einem Übersetzer zu verlangen. Nicht schwer zu verstehen, aber in einer wissenschaftlichen Publikation doch ungewöhnlich, sind Gossen-Formulierungen vom Typ „Auch deshalb verweisen am Göbkli Tepe die Obergötter auf zwei männliche Obermacker, Häuptlinge oder ähnliche Positionen ...“ (Hennings 2021, 118).

Aufgrund meiner eigenen Arbeit als Autor und Herausgeber vermute ich, diese Stilverirrungen und Fehler seien letztlich mehr dem Verlag, als dem Autor anzukreiden. Das Buch macht jedenfalls einen weitestgehend unredigierten Eindruck, und so liest man im Impressum auch nur: „Diese Publikation wurde begutachtet“. Das Ganze wirkt, als habe man bei einem Kneipengespräch das Tonband laufen lassen und die Aufnahme dann 1:1 transkribiert. Besonders wissenschaftlich oder auch nur besonders lesbar wirkt der Text dadurch allerdings nicht, und es gilt, was Wiebke Ziegler auf „planet wissen“ in einem Beitrag zur „Sprache der Urmenschen“ schrieb: „Je länger und verschachtelter der Satz, desto mehr ist er auf eine Struktur angewiesen. Gäbe es keine Regeln, wäre es kaum möglich, dass zwei Menschen sich gepflegt unterhalten.“[6]

[1] Hennings, Lars, Über die Anfänge des Denkens – Kognition und Siedlung, Soziologie der Steinzeit von der Höhlenmalerei zum Göbekli Tepe, Berlin 2021. Alle Zitate inkl. der Fehler per copy-and-paste aus der vorliegenden pdf-Fassung des Buches.

[2] Hennings, Lars, Von der Höhlenmalerei zur Hochkultur am Göbekli Tepe: Zur Soziologie früher Gemeinschaften, der Kognition und der Geschlechter im Jung-Paläolithikum, Berlin 2016

[3] Supp, Eckhard, Australiens Aborigines – Ende der Traumzeit?, Bonn 1985

[4] www.science.orf.at/stories/3204910/

[5] Supp, Eckhard, Fremder, quo vadis?, 2024, www.enos-wein.de/klturblogu/fremder-quo-vadis/

[6] Ziegler, Wiebke, Die Sprache der Urmenschen, 2022, www.planet-wissen.de/gesellschaft/lernen/sprache/index.html

1 thought on “Schlecht gebrüllt

  1. Antworten
    Eckhard Supp - 5. Mai 2024

    Was die Zeitangaben Hennings betrifft, so lese ich gerade Interessantes im Wikipedia-Beitrag “Zahl”: “In die Urgeschichte zurück reicht das Konzept der natürlichen Zahlen, die zum Zählen verwendet werden können und grundlegende Bedeutung besitzen. Bereits die Neandertaler schufen vor ca. 68.000 Jahren in Höhlen abstrakte Zahldarstellungen (zwei senkrechte Striche bzw. rot markierte Finger von Stalagmiten-Händen). Ab etwa 2000 v. Chr. rechneten Ägypter und Babylonier mit Bruchzahlen (rationalen Zahlen). In Indien entwickelte sich im 7. Jahrhundert n. Chr. ein Verständnis der Null und der negativen Zahlen.”

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