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Vom Geist zum Wein(geist)

Nein! So, wie man sich einen Weinbaubetrieb vorstellt, der sich ganz der Erzeugung im Trend liegender Natur- oder Orangeweine widmet, wirkt das hier wirklich nicht. Die alten Gebäude der Kellerei Bernhard Völker im fränkischen Kitzingen, nur wenige Meter vom Bahnhof und von der mittelalterlichen Altstadt entfernt, wecken eher Erinnerungen ans Weinmachen vergangener Jahrzehnte, und selbst die langen unterirdischen Kellergänge strahlen weder Weinbauromantik noch die perfektionistische Ästhetik moderner Spitzenweingüter aus. Noch ungewöhnlicher als die Kellerei ist der Winzer, der uns in den tiefen Kellern gegenübersitzt. Der ursprünglich gar nicht Winzer sein sollte und wollte, sondern stattdessen Philosophie und Mathematik studierte. Bis zu jenem denkwürdigen Erlebnis im Geschäft seines Weinhändlers im Londoner Norden. enos sprach mit Michael Völker über seinen ungewöhnlichen Werdegang vom Philosophen zum Naturweinerzeuger.

enos: Herr Völker, sie stammen aus einer Weinbaufamilie und machen Wein. Dennoch entspricht ihr Werdegang nicht im mindesten der klassischen Vorstellung vom Winzersohn, der in den elterlichen Betrieb einsteigt und ihn dann übernimmt. Können Sie uns erzählen, wie Sie erst zum Philosophen und dann zum Winzer wurden?
M. V.: Meine Eltern haben mir immer abgeraten, dieses Weingut weiterzuführen. Es war kein vielversprechendes Geschäft, schrumpfte kontinuierlich, und es war unglaublich schwierig, neue Kunden zu finden. Gleichzeitig hatte mein Vater bei der Übernahme drei Viertel seiner Familie ausbezahlen müssen. Ich selbst hatte auch keine Idee, wie man das zum Erfolg führen konnte, und dann stolperte ich während des Studiums bei Christian Thiel, dem letzten Vertreter der Erlanger Schule, in die Philosophie.
Es war keine sonderlich durchdachte Entscheidung, machte dann aber Spaß. Wenn man Philosophie studierte, musste man auch Logikkurse belegen, was mir leicht fiel. Parallel hatte ich dann noch ein Mathematikdiplom angefangen. Nicht abgeschlossen. Dabei hatte ich mich richtig auf die technischen Aspekte der Materie eingeschossen. Anschließend bin ich dann nach Leipzig, wo es einen eigenen Studiengang Logik gab. Da studierten hauptsächlich Informatiker, und das Ganze war noch technischer. Ich konnte dann so etwas wie die Kontinuums-Hypothese der Mathematiker beweisen und solche verrückten Geschichten. Ich habe auch eine Promotion über die Didaktik der Logik angefangen und parallel dazu ein Praktikum bei „Spektrum der Wissenschaft“, dem Heidelberger Naturwissenschafts-Magazin.
Dort bot man mir dann einen Job an, von dem ich anfangs dachte, ich könne meine Promotion parallel dazu betreiben, aber das ging nicht. Es war die Zeit, in der die Verlage langsam merkten, dass die Sache mit dem Print schwierig werden würde. Da waren wir Geisteswissenschaftler total gefragt. Studiengänge für Social-Media-Manager oder E-Commerce-Manager wie heute gab es ja noch nicht, und wenn man da Twitter oder Facebook erklären konnte, hatte man schon ein Know-How, das sonst niemand hatte. Ich habe selten so viele Anzüge getragen; heute habe ich nur noch einen, den ich praktisch nie anziehe. Aber auch das bot keine weiteren Entwicklungsmöglichkeiten. Über alte Kontakte bekam ich dann eine Stelle bei „Nature“ in London, einer dieser großen wissenschaftlichen Publikationen, die über’s Internet erst richtig groß geworden ist.
Meine Frau, die ich bei „Spektrum der Wissenschaft“ kennengelernt hatte, war in der Zwischenzeit nach London nachgekommen, und wir fingen an, uns mehr mit Essen zu beschäftigen. Wir waren ja beide in einem sehr sparsamen Umfeld aufgewachsen, und so war essen gehen für uns immer etwas nur für besondere Gelegenheiten gewesen. Sternerestaurant? Ein absurder Gedanke. Und wir leckten Blut. Um die Ecke in Nordlondon hatten wir einen schönen Weinladen. Eines Freitagnachmittags fragte mich ein Verkäufer, ob wir mal Lust auf was ganz Verrücktes hätten. Klar! Was soll man da sagen? Und so landete eine Flasche Wein in unserem Wohnzimmer, die komplett anders schmeckte als das, was wir zuvor getrunken hatten. Im Grund nur ein stinkiger Gamay von der Loire, der total irritierte … aber auch faszinierte. Er war spannend, hat in gewisser Art und Weise erregt, und wir fingen an, nach solchen Naturweinen zu suchen. Das Ganze fiel in die Zeit, als mein Vater anrief und sagte: „Junge, wir denken so langsam an’s Verkaufen. Die Rente rückt näher.“

enos: Aber das alles hatte ja noch nichts mit ihrer Philosophie zu tun, genauso wenig, wie die mit ihrer Herkunft aus einer Weinbaufamilie zu tun hatte.
M. V.: Aus meiner jetzigen Perspektive heraus kann ich die Verbindung sehen. Zum damaligen Zeitpunkt noch nicht.

enos: Wie würden Sie denn die Verbindung zwischen ihrer Arbeit und dem Philosophiestudium heute sehen?
M. V.: Das ist eine lange Geschichte. Es war ja im Speziellen der Naturwein, nicht Wein allgemein, der uns hierhin zurückgebracht hat. Dieser erste Naturwein, der erste, der mir Lust machte, mich damit zu beschäftigen, bei dem ich das Gefühl hatte, der weckt Emotionen. Damals war die Entscheidung, solche Weine zu machen, nur eine aus dem Gefühl heraus. Jetzt, viele Jahre später, verstehe ich das Warum.

enos: Erklären Sie uns das genauer?
M. V.: Da kommt die Philosopie zurück. Wein hat zwar eine sehr lange Geschichte, der moderne Wein aber nicht. Der moderne Wein, das ist der mit Reinzuchthefen und Filtration und den ganzen komplizierten Spritzmitteln im Weinberg gemachte. Mit Zusatzstoffen, chemischen Eingriffen, physikalischen Eingriffen, aber auch mit dem ganzen sozialen Konstrukt drumherum. Die Weingüter sind größer geworden, so groß, dass der Winzer oft nicht mal mehr seine Weinberge kennt.
Aufgrund dieser Entwicklung haben seit vielleicht 100 Jahren unglaubliche Entfremdungsprozesse stattgefunden. Auf allen Ebenen. Und die haben dazu geführt, verstärkt durch den wirtschaftlichen Druck, dass Wein als Getränk immer mehr verfügbar gemacht wurde. Das Verfügbarmachen oder Kontrollieren oder Kolonialisieren, je nachdem, aus welcher philosophischen Perspektive man das betrachtet, gibt auf der einen Seite Sicherheit – der Wein soll genau so schmecken, wie ich das möchte …

enos: Dürfen wir da nochmal einhaken? Das, was Sie gerade geschildert haben, was Sie Entfremdung oder Verfügbarmachung nennen, setzte ja etwa vor 20, 30 Jahren ein. Es ist aber wohl so, dass ohne diese Entwicklung ein Großteil des Weinbaus in Europa schlicht verschwunden wäre. Bei den Weinqualitäten, die man dem Verbraucher damals zumutete – Ausnahmen bestätigen die Regel –,
hatte diese Art Weinbau kaum Existenzberechtigung. Gerade das, was direkt nach dem letzten Weltkrieg gemacht wurde – immer produktivere Klone, immer höhere Erträge etc. –, sorgte für immer schlechtere Qualität. Von daher war das, was Sie jetzt als Entfremdung bezeichnen, ja auch so etwas wie eine positive Gegenreaktion.

M. V.: Ja, und trotzdem … wenn Sie sagen, die Qualität ist gestiegen, dann sehe ich dahinter dennoch ein sehr technisches Verständnis von Qualität. Auch wenn diese Weine qualitativ in Ordnung waren, waren sie doch genau so kontrolliert und verfügbar gemacht. Nur technisch waren sie viel besser als zu den Zeiten der Weinschwemme. Mir geht es um die emotionale Ebene. Die aber geht meiner Meinung nach verloren, wenn ich überall in wachsendem Maße diese Distanz aufbaue, immer mehr Kontrolle habe.
Gerade bei großen Betrieben wird ja schon vor der Lese genau im Labor gemessen, alles streng kontrolliert. Und beim Weinausbau … was wir da an Gärführung machen, dann die Computer, mit denen der Wein präzise gesteuert werden kann. Wenn man einen technischen Qualitätsbegriff heranzieht, kann das ein spektakulär guter Wein sein. Aber auf der emotionalen Ebene …Da hat mich ein Stück weit der deutsche Soziologe Hartmut Rosa mit seiner Resonanztheorie geprägt. Der sagt im Prinzip, es sei, wenn alles verfügbar gemacht ist, so, als ginge man zu einem Fußballspiel und kenne schon vorher das Ergebnis. Das kann dann immer noch ein super Event sein, man trifft Freunde, genießt die Stimmung. Aber Spannung … ok?

enos: Sie halten jetzt ein Plädoyer für das Unvorhersehbare, das Spontane, das Nicht-Planbare. Gerade aber haben Sie erzählt, dass Ihr philosophisches Interesse der Logik galt. Wie passt das zusammen?
M. V.: Mit der Logik kann ich auch nicht mehr … ich meine, die ist ja nur wie eine Maschine. Ja! Man baut sich in der Logik Maschinen zusammen, egal welche, es gibt ja viele verschiedene logische Systeme – Relevanzlogik, Modallogik usw. Die baut man und lernt, wie sie funktionieren. Im Prinzip hätte ich da auch Automechaniker werden können.

enos: Philosophischer Automechaniker.
M. V.: Den Rekurs zu dem, womit ich mich eigentlich mit meiner Philosophie eher am Rande beschäftigt habe, finde ich zum Beispiel in der philosophischen Anthropologie, die sich im Ausklang der Erlanger Schule gebildet hat. Oder in der Prozess-
philosophie von Alfred North Whitehead, der in den 1920er Jahren gezeigt hat, dass der Dualismus von Descartes und Hobbes gescheitert war. Damals habe ich das überhaupt nicht verstanden, aber das ist ein Verständnis, das in Deutschland im Moment weitergeführt wird. Der zentrale Gedanke der Prozessphilosophie war der, dass man Dinge nicht einzeln für sich betrachten kann. Die Idee hat ja auch in der Physik großen Anklang gefunden, und mit ihr konnte die klassische Physik Newtons gerade einpacken. Die funktionierte nämlich seit der Entwicklung der Quantenmechanik überhaupt nicht mehr. Man merkte plötzlich, wenn ich etwas anschaue, dann verändert sich das schon. Und wenn ich nicht hinschaue, passiert auch nichts.

enos: Das führt zu der Frage, ob nicht alle Modelle, die wir uns zum besseren Weltverständnis basteln – mal etwas attraktiver, mal etwas weniger – letztlich nur Modelle sind. Und nur so lange geeignet sind, mit ihnen auch praktisch etwas zu bewirken, wie nicht ein neueres, vielleicht besseres auf dem Markt auftaucht. Egal wie viel komplexer, integrativer, interaktiver sie gegenüber dem Vorgängermodell sein mögen. Ist letztlich nicht auch der Naturwein nur ein solches Modell?
M. V.: Ja klar, dem würde ich nicht widersprechen wollen. Aber ich würde sagen, es ist das beste Modell, das wir im Moment haben.

enos: Warum das beste?
M. V.: Weil das vorhergehende gescheitert ist.

enos: Also sind wir einen Schritt weitergekommen? Frei nach Hegels „das Bessere tötet das Gute“?
M. V.: Ja, und das kann man auf viele Felder ausdehnen. Aber wenn wir unsere wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung ansehen, da ist von diesen Gedanken noch nicht wirklich viel angekommen. Da sind wir noch immer im Hauen-und-Stechen-Wettbewerb. Möge der Stärkere gewinnen! Das spiegelt sich ja auch im Weinbau.

enos: Im Weinbau?
M. V.: Ja, natürlich. Schauen Sie sich doch an, wie zum Beispiel die kleinen Winzer wegsterben, den Konzentrationsprozess. Es gibt keine Handlese-Ereignisse mehr, zumindest nicht mehr in der Mehrheit der Betriebe, bei denen man mit Freunden und Familie feiert, dass die Natur einem einmal im Jahr einen Reichtum an Trauben schenkt.

enos: Das gibt’s nicht mehr?
M. V.: Selten, sehr selten. Wenn wir draußen sind, kommt es ganz selten vor, dass wir ein anderes Team bei der Handlese sehen. Und wenn, dann sind es ganz oft Erntemannschaften aus Osteuropa, die mit Bussen hin- und hergefahren werden. Also, der emotionale Faktor, den ich skizziert habe, geht durch die immer technisiertere Herangehensweise verloren. Dazu gibt es neben dem Rosa’schen Bild vom Fußballspiel noch ein anderes: das von der Afrikasafari. Bei der buchen Sie eine Rundfahrt in die Savanne, eingeplant ist ein Stopp um 19 Uhr, wenn wie geplant ein Löwe für’s Foto brüllt, und danach fahren Sie wieder nach Hause. Das Foto, das Sie dabei machen, ist schön, aber verglichen mit einem echten Spaziergang in der Savanne, ohne Vorbereitung, ohne die Inszenierung … da gibt es doch einen großen emotionalen Unterschied. Und zwar vor allem, weil der Löwe sich auch umdrehen und Sie fressen kann.

enos: Das ist natürlich eine ziemlich elitäre Weltsicht.
M. V.: Nun ja, wenn ich das auf den Wein runterbreche, dann wird die emotionale Differenz recht klar. Wie bei dem ersten Naturwein, der mich so fasziniert hat. Auf der emotionalen Ebene und nicht auf einer optischen, technisch-ästhetischen. Mit all seiner Spannung, seinem Risiko. Ich versuche, der Entfremdung entgegenzuwirken. Im Weinberg kann ich das, indem ich versuche, Maschinen wegzulassen, mich nicht als Gegner der Natur zu verstehen. Indem ich etwa dafür sorge, dass ich den Weinberg selbst bewirtschafte, nicht jemanden dafür bezahle, stelle ich Nähe her. Gehe natürlich auch Risiken ein. Je weniger Spritzmittel ich benutze, Bodenbearbeitung mache, weniger auslagere, desto mehr geht zwar das Risiko hoch, nimmt aber auch die Nähe zu. Das gleiche gilt auch im Keller.

enos: Sie stellen für sich Nähe her, stellen Sie die aber auch für den Konsumenten, für den Käufer Ihrer Weine her? Kann der Konsument diese Nähe etwa im Geschmack Ihrer Weine nachvollziehen? Auch wenn er nicht hier bei Ihnen gesessen, mit Ihnen über Ihre Philosophie diskutiert hat?
M. V.: Das ist eine spannende Frage, die ich mich auch nicht abschließend zu beantworten traue. Ich bin mir sicher, wenn man ein wenig „drin“ ist im Weintrinken … man schmeckt den Unterschied eines Weines, der sehr, sehr minimalistisch gemacht wurde. Die Lebendigkeit schmeckt man. Ich kann Ihnen in jeder Blindverkostung sagen, ob der Wein steril filtriert wurde oder nicht. Das kann man sich antrainieren. Aber Sie haben schon recht. Diese zweite Ebene, da habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, dieses Hintergrundwissen spielt schon eine Rolle.
Aber das ist in allen ästhetischen Disziplinen so. Wenn sie sich je mit Kandinsky beschäftigt haben, mit der Epoche, und man zeigt ihnen ein solches Bild, dann können Sie das auch nur bis zu einem gewissen Punkt erfahren. Umgekehrt: Sie können es sehr viel tiefgründiger erfahren, wenn Sie wissen, warum er denn all diese Vierecke und Punkte gemalt hat. Man betrachtet Gebäude ja auch ganz anders, wenn mal lernt, warum da diese ionischen und nicht die dorischen Kapitelle verwendet wurden.

enos: Zwei Punkte dazu: Man kann sicher Kunst auf verschiedene Art und Weise genießen, sie entweder nur emotional auf sich wirken lassen, das wäre die eine Möglichkeit. Oder aber man hat Hintergrundwissen, so etwa in dem Sinne, wie es viele Weinsnobs glauben – dass man Wein nur genießen kann, wenn man das nötige Wissen mitbringt. Und der zweite Punkt ist der, dass im Weinbau vieles von dem, was die Naturweinerzeuger heute machen, ja nichts Neues ist. Viele der Methoden werden seit Jahrzehnten praktiziert: Mostoxidation, Verzicht auf’s Filtrieren oder Schönen, Maischestandzeit, Reduktion der Schwefelzugaben etc. etc. etc. Das alles war zwar noch kein Marketingtrend wie heute, aber es wurde praktiziert. Wie würden Sie denn jetzt das spezifisch Neue bei dieser Naturweinbewegung beschreiben?
M. V.: Für die Naturweinbewegung, über die wir reden, fehlt immer noch jemand, der ihre Geschichte mal ordentlich aufschreibt. Die beginnt ja im Prinzip schon in den späten 1970er Jahren. Und in vielen Nischen war sie vielleicht nie ganz verschwunden. Wie in Georgien, wo in der gleichen Amphore seit Jahrhunderten Naturwein gemacht wurde. Klar, wenn ich den Löwen aus dem Beispiel in Freiheit sehen will, ist es vielleicht keine gute Idee, einfach – das erste und einzige Mal – blind in die Savanne reinzutapsen, sondern sich einzuleben, wohlzufühlen, zu lernen … Was die Naturweinszene betrifft, was da in den 1970ern und danach in größerem Maße als in den Jahrzehnten zuvor aufgewacht ist und in den letzten zehn Jahren diese enorme Sichtbarkeit bekommen hat, ist ja schon erstaunlich. Obwohl das noch eine so kleine Nische ist, wird so viel darüber geredet.

enos: In der Tat erstaunlich. Aber das bringt mich zum nächsten Punkt: Wenn viele der „technischen“ Komponenten des Naturweinmachens schon früher praktiziert wurden und das Ganze dann erst in jüngerer Zeit diese Aufmerksamkeit genießt, steckt dann nicht auch sehr viel Weltanschauliches dahinter? Ein wenig Naturidolatrie, wie vielleicht auch in Teilen der Umweltdebatte? Und könnte man Ihren Ansatz, mehr Emotionalität in den Wein zu bringen – mit seinem Nischencharakter und seinem elitären Gepäck, das er vielleicht … noch? … auf dem Rücken hat, nicht auch ganz pragmatisch als eine von vielen Möglichkeiten betrachten, nach der Epoche der technischen Perfektion jetzt wieder mehr Unterscheidbares, Individuelleres zu erzeugen? Wie es ja auch viele der Winzer – ganz ohne „Natur“ oder „Orange“ – versuchen, die mehr als früher auf starken Terroircharakter ihrer Weine setzen? Die sagen, ich habe technisch in den letzten 40 Jahren so viel gelernt, dass ich das einfach nicht über Bord werfen möchte, und sich vielleicht nur die eine oder andere „Rosine“ aus Ihrer Idee herauspicken?
M. V.: Wenn Sie Entfremdung als graduellen Prozess anschauen, der vielleicht aus „x“ Schritten besteht, und von diesen zwei weglassen, dann bin ich nur noch „x“ minus zwei Schritte entfremdet. Oder wenn ich meine Liste von 25 Zusatzstoffen habe und sage, diese drei nutze ich nicht mehr, habe ich vielleicht wirklich ein klein wenig mehr Risiko und Individualität. Allerdings auch deutlich weniger, als wenn ich alle 25 weglasse.

enos: Das klingt jetzt aber sehr nach Mathematikstudium. Immerhin könnte das genau der Punkt sein, an dem sich der konventionelle Weinbau vom Naturwein inspirieren lässt.
M. V.: … oder der Ansatz, von dem aus der Naturwein vom Kommerz aufgefressen wird. Ich würde Ihnen ja nicht widersprechen, kann das pauschal nicht beurteilen. Dazu kenne ich zu wenige Winzer, um das einschätzen zu können. Aber wenn sie ein Unternehmen haben, das unter Wachstumsdruck steht, das sich am Gewinnstreben orientiert und das sich dann die Elemente aus der Naturweinidee heraus-
pickt, die seinen Wein besser verkäuflich machen … Da fehlt es doch an allem, was für mich das Weinmachen philosophisch und ideologisch unterfüttert.

enos: Nur, wirtschaftlich überlebensfähig müssen auch Sie ihr Weingut machen.
M. V.: Die Frage hat schon Aristoteles in seiner „Politeia“ beantwortet. Er stellt natürliches gegen widernatürliches Wirtschaften. Natürliches Wirtschaften ist für ihn das, was zur Erhaltung eines Haushalts dient, widernatürliches ist das, was dem Vermehren des Geldes dient. Das unterscheidet dann den kleinen Familienbetrieb vom Mega-Château mit einem chinesischen Investor, dem es nur darum geht, aus Geld noch mehr Geld zu machen.

enos: Dann könnte man die Naturweinbewegung als eine Art antikapitalistischer Subsistenzphilosophie oder Bescheidenheitsökonomie bezeichnen?
M. V.: Klar, die Naturweinszene setzt ein massives politisches Statement ab und ist zutiefst antikapitalistisch. Keine Frage.

enos: Herr Völker, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Dieser Artikel wurde zuerst in enos 2/2020 veröffentlicht.
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