Fotos betrachten – aber doch nicht so!

Eine Rezension von Eckhard Supp

letzte korrigierte Fassung vom 25.10.25

(Links zu den im Text erwähnten Fotos, s. Anhang)

Eigentlich klang der Titel interessant, und die beim raschen Durchblättern von „Fotografie betrachten“ entdeckten Abbildungen verstärkten den positiven Eindruck. Dabei kommt der französische Autor, Laurent Jullier, gar nicht aus der Welt der Fotografie, sondern aus der (akademischen) des Kinos. Jedenfalls verzeichnet sein (französischer) Wikipedia-Eintrag zwar seine Position als Professor für cinematografische Studien am „ieca“ (Institut Européen de Cinéma et d’Audiovisuel) der Université de Lorraine (Nancy) und als Studienleiter an der Pariser Sorbonne, aber nichts Wesentliches zum Thema Fotografie, auch nicht das Buch, das Gegenstand dieser Rezension ist. Das allerdings könnte auch schlicht der Tatsache geschuldet sein, dass dieser Wikipedia-Eintrag seit mehr als 10 Jahren keine neuen Veröffentlichungen des Autoren Jullier mehr aufführt, und sollte daher nicht überbewertet werden.

„Fotografie betrachten“ erschien in deutscher Übersetzung 2024 im Zürcher Midas Verlag. Warum dabei im Titel aus dem ursprünglichen, dem Inhalt deutlich besser entsprechenden „Fotografien“ („Looking at photographs“) in der deutschen Übersetzung das abstraktere „Fotografie“ wurde, bleibt dabei ebenso erklärungsbedürftig wie das „Betrachten“, denn über große Strecken geht es in dem Werk eher um die Explikation von – tatsächlichen oder interpretierten – Intentionen und Techniken beim „Machen“, weniger um das Betrachten der Fotos, was auch eine Reihe Kapitelüberschriften zeigen: „Manipulieren und Verfremden“, „Der richtige Winkel, der richtige Abstand“, „Von Portraits zu Selfies“ etc. Wirklich entschieden, was er in seinem Buch behandeln möchte, scheint Jullier jedenfalls nicht zu sein. Für ihn ist „ein Foto … in erster Linie eine Art des Sehens“ – nein, eine Art des Zeigens, möchte man ihm zurufen, und er selbst korrigiert denn auch schon im folgenden Satz zumindest teilweise: „Jemand hat etwas gesehen ... und zeigt es uns.“ (S. 6) Geht doch!

Dabei mangelt es dem Autor gar nicht an der adäquaten Intention. So schreibt er: „Oft ist es weniger wichtig, zu verstehen, wie ein Foto entstanden ist, als zu wissen, ob es uns emotional berührt und zum Nachdenken anregt.“ (S. 48) und fragt „Warum hat dieses Foto diese Wirkung auf mich?“ –, allein, es fehlt an der konsequenten Durchführung bzw. Beantwortung der Frage. Aber sei’s drum. „Fotografien betrachten“ versammelt und interpretiert auf 175 Seiten gut 100 interessante oder gar ikonische Fotos aus der Geschichte der Fotografie von 1837/1840 bis in die späten 2010er Jahre. Und bietet damit jede Menge Stoff für Reflexion und Diskussion – Grund genug, sich mit dem Bändchen genauer auseinanderzusetzen.

Fangen wir dabei ausnahmsweise einmal von hinten an, von den allerletzten Seiten. Bis dahin musste ich nämlich warten, respektive mich durch den Großteil der 170 Seiten mühen, deren Text durch die vielen unterschiedlichen Schriften bzw. Auszeichnungen extrem unruhig wirkt – die Hauptschrift dabei mit so feiner Strichstärke, dass das Lesen bei nicht idealem Licht rasch zur Qual wurde –, bevor der Autor zu dem Foto kam, das den Buchumschlag zierte: dem bekannten und vielleicht weltweit meist reproduzierten „baiser de l’Hôtel de Ville“ (S. 161) aus dem Jahr 1950. Ein Foto, dessen Aufnahme in die Auswahl mich auch deshalb triggerte, weil ich den Autor, Robert Doisneau, in den 1970/1980ern noch persönlich kennengelernt hatte; wir vertrieben unsere Fotos in derselben Pariser Agentur Rapho (heute Gamma-Rapho).

Die Julliersche Interpretation dieses „baiser de l’Hôtel de Ville“ nur merkwürdig zu nennen, wäre dabei ein glatter Euphemismus: „Sein Motiv (das des Fotos von Robert, E. S.) ist die unbändige Natur der romantischen Liebe“, schreibt der Autor und ergänzt: „Wahre Liebe bedeutet das drängende Verlangen, einander zu küssen, auch wenn Zeit und Ort unpassend erscheinen.“ (S. 160) Der Kuss, als Wesen der wahren Liebe? Und was ist mit Zuneigung, Vertrauen, Respekt, Sicherheit, sexuellem Verlangen? Alles weniger bedeutsam als ein flüchtiger oder auch weniger flüchtiger Kuss, für den in der Regel schon weniger als leichtes Verliebtsein reicht? Und das selbst dort, wo dieser Kuss in jeder Hinsicht vom Fotografen arrangiert wurde wie im Falle des „baisers de l’Hôtel de Ville“? Ein Kuss, von dem übrigens Doisneau selbst, soweit ich mich an gemeinsame Gespräche erinnere, nie behauptet hat, es habe sich dabei um echte Gefühle, um ein echtes Liebespaar gehandelt; es waren Schauspieler, mit denen er einige Stunden lang im Auftrag der amerikanischen „Life“ die Tatsache in Szene zu setzen versuchte, dass sich junge Menschen in Frankreich, im Unterschied zu anderen Teilen der Welt, in aller Öffentlichkeit küssen. „In Paris young lovers kiss wherever they want to and nobody seems to care”, lautete denn auch, folgt man Wikipedia, die Bildunterschrift in der “Life”, in der der Fotograf mit der Aussage zitiert wird: „This was short kiss, ‘a kiss rapide“. Ein “short kiss” als Ausdruck der “unbändigen Natur der romantischen Liebe“?

Damit nicht genug der Interpretation. Auch ein wohl eher zufällig ins Bild gelaufener Mann mit Baskenmütze – diese Ecke der „rue de Rivoli“ am „Hôtel  de Ville“ zählt zu den belebtesten der Stadt – entkommt der wilden Jullierschen Interpretationswut nicht. „Der Kontrast wird durch den Mann mit der Baskenmütze noch verstärkt: Er schaut ernst, fast traurig, und gibt vor (Aha! Wir unterstellen ihm, absichtlich, für das Foto, so dreinzuschauen? E. S.), sie nicht zu sehen. Er scheint die Zähne zusammenzubeißen (das konnte ich auch mit der Lupe nicht erkennen, E. S.) und zu denken, dass er noch nie eine solche Frau geliebt hat (eine Projektion des Autors? E. S.). Er sucht Sicherheit in der Missbilligung, statt sich die Eifersucht einzugestehen.“ (S. 160) Wirklich erstaunlich, was Jullier alles herausfindet, ohne je ein Wort mit dem Baskenmützenmann gesprochen zu haben!

Nun ist natürlich jeder (Autor) frei, in Fotos hineinzuinterpretieren, was immer er will. Aber Jullier schreibt ja nicht „ich glaube“, „ich interpretiere“, „ich könnte mir vorstellen“ oder „ich vermute“, sondern stellt Tatsachenbehauptungen auf: „Er gibt vor“, „er sucht“ und „statt sich einzugestehen“. Auch wäre eine einzige solcher wilden Interpretationen im Grunde der Erwähnung nicht wert, aber leider bleibt das Beispiel des Doisneauschen Foto nicht das einzige, das der Autor seinen Lesern zumutet. Ähnlich überinterpretiert erscheint das Foto „First Sunday / Grandmother’s pocketbook“ der Amerikanerin Ming Smith (S. 67). Schon die Überschrift des Textabschnitts („In der ersten Person Singular sehen“, S. 66) mutet merkwürdig an. Wie sonst als in der ersten Person könnten wir Fotos sehen respektive betrachten? Selbst wenn wir von kollektiven Wahrnehmungen sprechen, geht es doch immer noch um, allenfalls gegenseitig beeinflusstes Sehen von „ersten Personen“.

Dabei erscheint die Interpretation dieses Bildes auf den ersten Blick durchaus schlüssig. Es zeigt ein kleines Kind und zwei Frauen – eine von ihnen hält laut Bildtitel ein „pocketbook“, eine Brieftasche oder ein Notizbuch (eher keine Handtasche, wie Jullier vermutet). Das Bild ist unscharf, wobei man dennoch fast alles – Ausnahme: Details des offenbar zu schnell bewegten Kopfes der „grandmother“ im Sonntagsgewand – im Prinzip erkennen kann.

Diese Unschärfe ist es, die Jullier zu seiner Interpretation bewegt, bei der er sich teilweise auf die Fotografin selbst beruft. Die schreibt: „Du musst einen Moment einfangen, der niemals wiederkehren wird, und ihm gerecht werden.“ (S. 66) Was Jullier dann allerdings flugs interpretativ ausweitet, indem er postuliert, Smiths Methode, solcher Art Momente gerecht zu werden, bestehe darin, „zu erkennen, dass wir … Fremde(n) nur kurz erblicken, die unseren Weg kreuzen. Die schwache Spur dieser flüchtigen Figuren entschwindet unserem Gedächtnis ebenso schnell …“ Selbst wenn man die Assoziation Unschärfe-Flüchtiges akzeptieren will – im Grunde stellen ja die meisten, auch scharfe Fotos flüchtige Momente dar –, bleibt offen, warum dieses Flüchtige, Ephemere dann gleich ontologisch überhöht werden muss: „Die Kamera“, meint Jullier, „sorgt dafür, dass wir sie (unsere Wahrnehmung, E. S.) als Beweis unserer Menschlichkeit anerkennen“, ein Zusammenhang der sich mir nur schwer erschließen will, jedenfalls solange ich mich an die gängige Bedeutung des Wortes „Menschlichkeit“ halte. Das Ephemere als Beweis von Menschlichkeit? Na ja!

Eigentlich kann man bei fast jedem der abgedruckten Fotos die Interpretation Julliers hinterfragen. So auch bei der Aufnahme von Abbas „End of Biafra“ (S. 83) aus welcher der Autor herausgelesen haben will, dass das von hinten fotografierte Kind zitterte? „… ein zitterndes Kind in zerrissener Kleidung“ (S. 82) sieht der Interpret, und als jemand, der genügend in Afrika fotografiert hat, auch Kinder im Elend, frage ich mich, woran er bei einem Standbild, das einen Moment von wahrscheinlich weniger als einer hundertstel Sekunde eingefroren hat, ein Zittern erkannt haben will. Hat der Fotograf das irgendwo geschrieben? Oder glaubt Jullier einfach, dass sich sein Text so etwas spektakulärer liest, als wenn er nur „ein Kind in zerrissener Kleidung“ geschrieben hätte?

Julliers Interpretationswut setzt schon früh im Buch ein. Das stimmungsgeladene Foto von Harry Gruyaert (S. 16), der einige Seiten zuvor mit den Worten zitiert wird: „Das ist reine Intuition. Es gibt kein Konzept … Ich bin fasziniert von dem Wunder, wenn Dinge auf eine Art und Weise zusammenkommen, die für mich einen Sinn ergibt, sodass ich sehr wenig nachdenken muss.“ Intuition, Spontaneität – das kann man aus diesen Worten Gruyaerts herauslesen. Bei Jullier klingt das deutlich anders: „In diesem Foto …  orientiert sich Harry Gruyaert an der Drittelregel, die die Komposition klassischer Gemälde regelt, die oft in drei gleiche (Sind es bei G. wirklich gleiche? E. S.) Abschnitte unterteilt sind, sowohl vertikal als auch horizontal, …“. Und weiter: „Es ist eine Welt, die von regelmäßigen geometrischen Formen beherrscht wird, die so bedrückend sind, dass sich kein Mensch in sie hineinwagen möchte.“ Reine Intuition? Wenig nachgedacht? Mir scheint, Jullier will Gruyaert das Gegenteil unterschieben.

Einmal davon ganz abgesehen, dass für mein Gefühl das Bild weniger durch eine angstmachende Menschenleere – gestützt durch Strukturen und die Drittelregel – geprägt wird als vielmehr von der Stimmung, die das Umgebungslicht und die Farbtönung des Glases der Tür im Vordergrund herstellen. Nicht zufällig ist m. E. deshalb auch, dass ein Großteil der restlichen Bilder aus dieser Gruyaertschen Reiseserie „East / West“ durchaus auch Menschen zeigen, auch wenn nicht als Hauptmotiv, sondern meist eher als verlorene „Randerscheinung“, was für die Peripherie vieler US-Städte charakteristisch ist.

Manchmal wirkt es, als habe Gruyaert einfach nicht richtig hingeschaut. Wie etwa bei der Bildunterschrift zu Thomas Demands „Detail XI“ (S. 51). „„Auf der rechten Seite befindet sich ein schwarzer, vertikaler Streifen, der jedoch keine Funktion zu haben scheint“, spekuliert Jullier, wobei sich dieser „schwarze Streifen“ ohne Funktion schon bei flüchtigem Hinschauen als dunkelbrauner Türrahmen entpuppt, wie er in einem Büroraum – die Serie trägt den Titel „Embassy“ – durchaus eine Funktion hat.“

Nicht richtig hingeschaut oder nicht richtig recherchiert ... wie im Fall des Bildes mit dem Titel „La Maison d’André Chénier“ von Eugène Atget (S. 84), von dem allein im Internet auch bei nur oberflächlicher Suche mehrere Varianten von unterschiedlichen Kamerastandorten zum Vorschein kommen – wobei es Julliers Geheimnis bleibt, warum er gerade diese Variante wählte. Aufklärung bietet auch der Aspekt nicht, den Jullier evoziert: „Aufgenommen ungefähr zu der Zeit,“ schreibt er, „als … die Hauptstadt durch die breiten Boulevards verwandelt wurde …“ – , was nicht korrekt ist, denn die Umwandlung des Stadtbilds durch breite Boulevards war zum Zeitpunkt der Entstehung des Fotos (1907) schon weitestgehend abgeschlossen. Außerdem zeigt das Bild nichts, was diese Umwandlung hätte repräsentieren können, denn das Haus an der Pointe Trigano, das die Adresse „rue de Cléry, 97“ trägt, gehörte nicht zu denen des alten Paris, die zugunsten der großen Boulevards niedergerissen wurden (Jullier meint, die Fotos von Atget nutzten „die distanzierende Wirkung des Weitwinkelobjektivs, um das Gefühl zu vermitteln, dass das frühere Paris in den Tiefen der Zeit verschwindet.“ [S. 85]), sondern existiert noch heute. Und trägt weithin sichtbar eine große Plakette mit der Aufschrift: „Ici habitait en 1793 le poëte André Chénier“ (hier wohnte 1793 der Poet André Chénier). Einem guten Lektorat wäre das wohl genauso aufgefallen, wie die Tatsache, dass es eine „Ecke rue de Cléry und rue d’Aboukir“ bei zwei auf voller Länge parallelen Straßen gar nicht geben kann, da diese sich nicht kreuzen. E. S.).

Die Interpretation ist dabei nicht nur unter historischen Gesichtspunkten zweifelhaft, sondern auch unter technischen. „Oft jedoch benutzen“, postuliert Jullier, „Fotografen ein Weitwinkelobjektiv, wenn sie die Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen unterschiedlichen Elementen in einer Szene lenken wollen. Der Fotograf kann damit Dinge in Perspektive setzen, und zwar sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn, statt das Motiv zu isolieren, indem er es aus dem Kontext nimmt. Allerdings verzerrt diese Perspektive auch die Fluchtlinien, die dem Bild Tiefe geben. Das Ergebnis wirkt anders, als wir die Welt tatsächlich wahrnehmen.“ (S. 85) Dass die Fluchtlinien in Atgets Foto nicht verzerrt sind, kann jeder beim Blick auf das Foto selbst erkennen, und dass die Wahl des Weitwinkels nichts mit dem (spekulierten) Verschwinden des alten Paris im Untergrund zu tun hat, zeigt ein kurzer Blick auf die anderen Varianten des Fotos, die wohl mit ähnlicher Brennweite, aber verschobenem Bildzentrum entstanden sind und deshalb deutlich weniger vom „Untergrund“-Pflaster zeigen. Den relativ großen Anteil dieses Pflasters an der Gesamtgröße der gewählten (zufällig?) Variante könnten hingegen ganz banal dem Versuch geschuldet sein, die Senkrechten der Realität in Senkrechten der Aufnahme (ohne stürzende Linien) abzubilden.

Zwei im Foto "in Beziehung gesetzte" Vögel auf Bird Island (Seychellen). Eine Weitwinkelaufnahme? Nein! Das Foto wurde mit langer Brennweite aufgenommen. (© E. Supp)

Immer wieder muss man sich beim Lesen des Buches fragen, ob hinter den nicht stimmigen Passagen generelles Unwissen, mangelnde Recherche oder nur fehlende praktische Erfahrung stecken. „Auch der Unterschied zwischen klassischen Kameras und Smartphones spielt eine Rolle“, schreibt Jullier etwa (S: 81) und erklärt diesen Unterschied wie folgt. „Beim Blick durch den Sucher nutzen wir zwar das Objektiv um die Sichtweise zu ändern, schauen aber immer noch direkt auf die Welt. Schauen wir uns dagegen das Foto, das wir machen wollen, auf einem Bildschirm an, konzentrieren wir uns nicht mehr auf die Welt selbst, sondern auf ein Bild von ihr.“ Das soll der wesentliche Unterschied sein? Und was ist der Unterschied, außer vielleicht der Pixelgröße, zwischen der elektronischen Darstellung auf dem Handy-Screen und dem kleinen elektronischen Screen in modernen spiegellosen Kameras? Wie steht es mit dem gespiegelten Bild von Spiegelreflexkameras? Und was ist mit den alten Kleinbildkameras mit Aufsichtssucher (meine allererste war eine), den großformatigen Plattenkameras mit Mattscheibe? Bieten sie einen direkten oder einen indirekten Blick auf die Welt? Und hat diese Frage beim „Fotografie betrachten“ überhaupt irgendeine Relevanz?

Deutschland, Frankfurt, Dippemess am Mainufer (1974)
Eines meiner ältesten Fotos aus den 1970er Jahren, aufgenommen mit einer Kleinbild-Praktika mit Aufsichtsucher. Dabei wurde die um 90 Grad gedrehte Kamera neben den auf die Seite gelegten Kopf gehalten und das Objekt auf einer Mattscheibe anvisiert. (© E. Supp)

Immer wieder hat man den Eindruck, dass die eingangs erwähnten „wilden Interpretationen“ auch in fehlendem praktisch-technischem Verständnis begründet sein könnten. So etwa dort, wo Jullier den Eindruck eines „gigantischen Hais“ im Foto „Gulf of Bothnia“ von Luca Campigotto (S. 86 / 87) auf den Effekt des verwendeten Weitwinkels zurückführt – „Durch das Weitwinkelobjektiv wirkt der Bug des Schiffes wie das Gesicht eines gigantischen Hais.“ (S. 88) – als gäbe es da einen kausalen, objektiven Zusammenhang. Dass man mit einer Spur Fantasie ein „Haifischmaul“ durchaus auch in einem Foto sehen könnte, das mit langer Brennweite aufgenommen wurde, habe ich selbst auf dem Pariser Flughafen Charles-de-Gaulle erfahren, und ich bin mir ziemlich sicher, dass auch das Campigottosche Schiff mit Tele und von der Seite wie ein Hai gewirkt hätte.

Es bedarf nicht allzu vieler Fantasie, um in der Aufnahme einer Fracht-747 auf dem Pariser Charles-de-Gaulle-Flughafen ein Haifischmaul zu entdecken. (© E. Supp)

Man könnte diese falsch konstruierten „Kausalitäten“ als lässliche Sünden relativieren, wären da nicht an anderer Stelle immer wieder klare sachlliche Falschaussagen wie die der zitierten „Ecke rue de Cléry – rue d’Aboukir“. ‚Dabei verschlägt es den Autor sogar in Gebiete, hier das der Medizin, die noch weniger zu seiner Kernkompentenz zu gehören scheinen wie die Fotografie. „Während die Brennweite unserer Augen“, vermutet er, „fest ist, kann die Brennweite einer Kamera oder eines Smartphones variieren.“ (S. 85) Eine kurze Internet-Recherche hätte ihn zumindest vorsichtiger spekulieren lassen. Jedenfalls sind alle Quellen, die ich auf die Schnelle mit Google finden konnte, einer Meinung. „Das menschliche Auge hat keine feste Brennweite, sondern eine veränderliche“, lese ich da etwa (www.leifiphysik.de) und: „Die Brennweite des menschlichen Auges liegt je nach Betrachtung bei etwa 17 bis 23 mm … Diese Werte sind jedoch nur ein Mittelwert, da das Auge ein flexibles System ist und seine Brennweite durch Akkommodation anpassen kann“ (www.lernhelfer.de).

Damit nicht genug. Jullier weiß auch, dass bei „einer kurzen Brennweite … ein nahes Objekt weit entfernt zu sein (scheint)“. (S. 85) Ob das wirklich so ist, habe ich einmal mit zwei Fotos aus den 1980er Jahren getestet. Bei welchem der beiden Fotos ich näher bzw. weiter entfernt von den Aborigine-Tänzern gewesen sei, fragte ich, und erhielt die Antwort, die der Jullierschen Vermutung diametral widersprach: Nicht weiter entfernt, sondern „näher dran“ wirke das Weitwinkel-Foto, was auch den Tatsachen entsprach.

Australien, Brisbane, Eröffnungsfeier Commonwealth Games, Aboriginal dancers (1982)
Zwei Mal Aborigine-Tänzer bei der Eröffnung der Commonwealth Games, Brisbane, Australien (1982) - einmal mit Weitwinkel, einmal mit Teleobjektiv. Bei welcher der Aufnahmen stand der Fotograf näher am bzw. weiter weg vom "Objekt"? Alle Betrachter gaben die richtige Antwort. (© E. Supp)

Bei Vielem von dem, was Jullier in „seine“ Beispielfotos hineininterpretiert, kann man mit etwas Aufmerksamkeit den Fehler finden und zu erklären versuchen. Anderes bleibt zumindest mir persönlich schlicht unverständlich. Wie etwa die Aussage: „Jedes Foto ist eine Fälschung, von Anfang bis Ende“ (S. 24). Oder der reichlich esoterisch klingende Abschnitt über Geisterfotos. „Bei den Fotos, die diese Fragen aufwerfen, geht es … um den Glauben. Wir können sie mit religiösem Glauben vergleichen“ (S. 41). Oder schließlich die Behauptung: „Als die Fotografie erfunden wurde, war die Welt noch statischer als heute“ (S. 55). Als Ethnologe frage ich mich auch, woher Jullier den Mut nimmt, zu postulieren, E. S. Curtis habe „ein genaues Bild der indianischen Kultur vor der Kolonialisierung“ zeichnen wollen, indem er seine „Modelle“ traditionelle Kleidung anziehen ließ (S. 50).

Mein Fazit besteht deshalb vor allem aus jeder Menge Fragezeichen. „Fotografie betrachten“ bietet eine ganze Reihe interessanter Fotos, aber auch teilweise wilde oder gar gänzlich unverständliche Interpretationen und sogar offen falsche Tatsachenbehauptungen. Für Leser, die es gewohnt sind, sich mit solchen Texten kritisch auseinanderzusetzen, mag sich das Buch lohnen – das ist aber auch schon alles. Und nein, so, mit so vielen Vorurteilen und spekulativen Deutungen wie sie der Autor produziert sollte man Fotografie oder Fotografien besser nicht betrachten.

 

Bibliographische Angaben

Jullier, Laurent, Fotografie betrachten (Art Essentials), Zürich 2024

 

Die erwähnten Fotos im Internet

Abbas – End of Biafra: https://www.magnumphotos.com/nn11517589/?_gl=1*log1lu*_up*MQ..*_ga*Nzk0MTA1NTkuMTc2MTA1NzAzMQ..*_ga_50D0ZG80LT*czE3NjEwNTcwMzAkbzEkZzAkdDE3NjEwNTcwMzAkajYwJGwwJGg5Mzk3NDc4NjQ.*_ga_Y4MWFWT6P9*czE3NjEwNTcwMzAkbzEkZzAkdDE3NjEwNTcwMzAkajYwJGwwJGgw

Atget – La Maison d’André Chenier: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Maison_d%27Andr%C3%A9_Ch%C3%A9nier,_angle_des_rues_de_Cl%C3%A9ry_et_d%27Aboukir,_2%C3%A8me_arrondissement,_Paris,_PH5471.jpg

Campigotto – Gulf of Bothnia. http://www.lucacampigotto.com/home.html

Curtis – Loitering at the spring: https://pixelsmerch.com/featured/loitering-at-the-spring-1921-edward-s-curtis.html

Demand – Detail XI: https://kr.pinterest.com/pin/771030398740070991/

Doisneau – Le baiser de l’Hôtel de Ville: www.gettyimages.de/detail/nachrichtenfoto/kiss-by-the-hotel-de-ville-place-de-lhotel-de-ville-nachrichtenfoto/119002427?adppopup=true

Gruyaert – Los Angeles: https://www.magnumphotos.com/arts-culture/travel/harry-gruyaert-east-west-magnum-photos/

Smith -  First Sunday / Grandmother’s pocketbook: https://www.houldsworth.co.uk/exhibitions/13/works/artworks-10817-ming-smith-first-sunday-i-grandmother-s-pocketbook-1980/

 

Leseempfehlungen

Benjamin, Walter, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1972 (2025)

Bourdieu, Pierre et alt., Eine illegitime Kunst – Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, 1981 (1983)

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