Der Schock kommt erst auf den zweiten Blick. Am Flughafen scheint die Welt noch in Ordnung. Der Airport ist nicht groß, aber doch recht modern, international, obwohl irgendwie auch gesichtslos, austauschbar. Minuten später aber ist dieser Eindruck schon Geschichte. Die Straße, die vom Flughafen der moldawischen Hauptstadt Chișinău, sprich Kichináu, nach Süden führt, könnte aus Vorkriegszeiten stammen. Schlagloch an Schlagloch, Teerfleck an Teerfleck, und das soll auch in der Folge mit wenigen Ausnahmen so bleiben. Mit dem eigenen Wagen möchte man hier aus Angst um Achsen und Stoßdämpfer nicht wirklich fahren.
Bei der Einfahrt nach Chișinău das gleiche Bild: Plattenbauten säumen die Straße. Bauten, die vermutlich seit den Zeiten der Sowjetunion Breshnews oder Andropows nicht mehr repariert, geschweige denn gründlich saniert wurden. Bröckelnde Fassaden eines real existierenden Sozialismus. Nur an wenigen Stellen der Stadt, im Regierungsviertel und im Umkreis von zwei, drei neugebauten Einkaufszentren blitzt ein wenig Gediegenheit, sogar modernes Leben auf.
Moldawien, offiziell die Republik Moldau, ist mit Sicherheit eines der ärmsten Länder Europas, wenn nicht der Welt. Mit einem Pro-Kopf-Sozialprodukt von 3.200 Dollar rangiert das Land mit Abstand selbst hinter ausgesprochenen Armenhäusern wie Albanien, ganz zu schweigen von osteuropäischen EU-Mitgliedern wie Bulgarien oder auch Rumänien, die in dieser Perspektive doppelt so „reich“ sind.
Feodosie Borş, den Besitzer eines einstigen Weinkombinats in der Ortschaft Răzeni im Süden von Chișinău, das auf Google Maps noch heute ganz anonym als „Fabrica de Vin“ verzeichnet ist, scheinen solche Zustände nicht zu stören. Stolz führt er durch die zumeist verfallenen Gebäude seiner Kellerei, die unter Doina, dem Vornamen seiner Frau, firmiert. Viele der Kellereien des einstigen Ostblocks sahen nach dessen Zerfall in den 1990er Jahren so aus, aber nur wenige bieten noch heute dasselbe desolate Bild. Fast schon erstaunlich ist es da, dass die Weine von Doina, auch wenn von einfachster, „industrieller“ Qualität, zumindest „technisch“ sauber sind. Ob daher der Stolz stammt?
Abgesehen von den wenigen Kellereimitarbeitern wirkt die Gegend um Răzeni genauso menschenleer wie schon die Staatsstraße von Chișinău. Andrian Digolean, seines Zeichens „marketing expert“ von „Wine of Moldova“, als den ihn die Visitenkarte ihn ausweist, zuckt mit den Schultern. „Immerhin lebt heute ein Viertel der Bevölkerung von 1992, dem Jahr der Unabhängigkeit, im Ausland. Und von den aktuell noch zweieinhalb Millionen Einwohnern des Landes fast ein Drittel in der Hauptstadt.“
Ein ähnliches Bild bietet sich im Weinbau: Gab es 1985 in Moldawien noch 250.000 und zur Zeit der Unabhängigkeit noch 200.000 Hektar Reben, so sind es heute nur noch 70.000 oder 80.000 Hektar – ohne die nur schwer quantitativ zu fassenden Kleinstflächen, aus denen in bäuerlichen Haushalten oft noch Wein für den Eigenbedarf gekeltert wird, zu berücksichtigen. Einer der Gründe für diese Entwicklung war im Moment der Unabhängigkeit selbst angelegt. Während auf der einen Seite eine extrem kleinteilige Privatisierung von Teilen der landwirtschaftlichen Nutzfläche den Bauern kaum eine Subsistenzmöglichkeit eröffnete, schafften es einige wenige, sich mit meist undurchsichtigen Manövern riesigen Grundbesitz zu sichern.
Die Folgen sind noch heute weit über die Landwirtschaft hinaus sichtbar. Während an den wenigen schicken Hotspots von Chișinău die fetten SUV aus westlicher Produktion Schlange stehen, ist die große Mehrheit der Bevölkerung bettelarm. Eine Mittelschicht gibt es nicht oder zumindest nicht in nennenswertem Ausmaß, was natürlich gravierende Auswirkungen auf den internen Weinmarkt hat. Auch Gheorghe Arpentin, Digoleans Chef und gleichzeitig Moldawiens Repräsentant im Internationalen Weinbüro OIV, konstatiert diese Situation als eines der größten Probleme der nationalen Weinwirtschaft.
In Chișinăus angesagtestem Weinladen, der Invino Enoteca am zentralen Dompark, zeichnet Arpentin die verwickelte Situation in ihrer Entstehung nach. „Schon in der Sowjetzeit gab es praktisch keinen Binnenmarkt für Wein. Die Republik Moldawien produzierte – sieht man von ein wenig Wein aus Hybridsorten für den Hausgebrauch ab – ausschließlich Wein für die Schaumweinkellereien der Union. Es gab zwölf Kellereien für moldawische Weine, von denen allein zehn außerhalb der Republik in Russland, der Ukraine oder Weißrussland lagen. Das hatte zur Folge, dass wir bei der Auflösung der Sowjetunion praktisch keine Infrastruktur für die Weinerzeugung besaßen.“
Es waren die Jahre, in denen Arpentin selbst anfing, in der Branche zu arbeiten. Es war der Vater, der ihn mit dem Weinbau in Verbindung brachte. Vielleicht eine Konsequenz aus dem eigenen, abenteuerlichen Leben. Als Übersetzer für die russische Armee in Rumänien wurde der nämlich nach dem Weltkrieg in Rumänien stationiert, kam sogar bis ins ungarische Budapest. Ein dummer, nicht einmal kritisch gemeinter Witz über Stalingrad brachte ihn zehn Jahre ins sibirische Lager und anschließend nach Kasachstan, wo er seine aus der Ukraine stammende Frau kennenlernte, mit der er schließlich nach Moldawien zurückkehrte.
Der Vater hatte gewollt, dass seine Kinder studieren; Sohn Gheorghe wurde zunächst in einen der sowjetischen Keller im Nachbardorf geschickt, besuchte anschließend eine polytechnische Universität. Um dem Vater einen Gefallen zu tun. 1983, am Ende des Studiums, schlug man ihm vor zu promovieren. Ihm gefiel die Forschung, der Vater dagegen verstand nicht, warum sein Sohn nach fünf Jahren auf der Universität immer noch studieren wollte.
Arpentin geht ins ukrainische Jalta, an ein sowjetisches Forschungsinstitut mit 700 Wissenschaftlern, und trifft bei einer Reise nach Bulgarien einen Forscher des INRA, des Instituts der nationalen französischen Agrarforschung. Er vollendet sein Doktorat in Narbonne, aber als er nach dem Ende der Sowjetunion in die Heimat zurückkehren will, verweigert man ihm die Einreise. Er besitzt ja nur einen sowjetischen Pass, und die Sowjetunion gibt es nicht mehr.
Es ist eine verworrene Geschichte, die Arpentin erzählt, mindestens ebenso verworren wie die Geschichte des Weinbaus in Moldawien generell. Denn dort hat sich trotz der Unabhängigkeit vom Sowjetreich erst einmal nicht allzu viel geändert. Vor allem nicht die Trinkgewohnheiten der Bevölkerung. „Die sind ja über weite Strecken gleich geblieben“, erklärt Arpentin, „vor allem, was die Ablehnung der kommerziellen Weine angeht, die von den verbliebenen Kellereien produziert werden. Die Menschen in Moldawien sagen, diese industriellen Weine seien unsauber, voller Schwefel. Sie ziehen nach wie vor ihre Hybridsorten, Isabelle und so, vor. Sie lieben deren oxidierte, alkoholreiche Weine, die kaum länger als bis zum nächsten Sommer trinkbar sind.“
Und ja, nicht einmal die Abhängigkeit vom russischen Markt hat sich, trotz zweier Embargos von Moskauer Seite für moldawische Weine, verringert, das erste von 2006 und das zweite 2013. Denn diese Embargos, erinnert sich Arpentin, haben die Abhängigkeit vom russischen Markt nicht wirklich reduziert. Es gab von Anfang an Erzeuger, die Wege gefunden haben, weiterhin Wein nach Russland zu verkaufen.“ Was wiederum damit zu tun habe, dass auch heute, viele Jahre nach der Unabhängigkeit, gut die Hälfte der Bevölkerung pro-russisch eingestellt sei. Immerhin habe man ja auch einen sozialistischen, pro-russischen Präsidenten. „Und wenn man in diesem Land einmal vorschlägt, die Rebfläche weiter zu reduzieren, sich daran zu machen, international wettbewerbsfähige Weine zu erzeugen, dann muss man sich vorwerfen lassen, den moldawischen Weinbau ruinieren zu wollen.“
Es sind Gegebenheiten, die Arpentin referiert, die von so manchem, der die Moldawier am liebsten massiv darin unterstützen würden, sich weiter in Richtung Westen, in Richtung EU oder gar NATO zu orientieren, in ihrer Tragweite offenbar nicht wirklich verstanden werden. Häufig und viel zu leichtfertig werden die Probleme des moldawischen Weinbaus auf das Embargo durch Russland reduziert. Gheorghe Arpentin weiß sehr wohl, dass sie zum großen Teil hausgemacht sind. „Es gab, unmittelbar nach der Unabhängigkeit“, erinnert er sich, „einmal einen Flying Winemaker der australischen Kellerei Penfolds. Der war vom Potenzial Moldawiens überzeugt und wollte hier Schaumweine erzeugen. Wollte sich hier einkaufen. Aber natürlich hat das nicht funktioniert. Die Unsicherheit für Investoren, vor allem aber die Korruption sind viel zu groß.“
„Selbst wenn es mal interessierte Investoren gibt – sobald die hierher kommen, sich erkundigen, wie die Dinge funktionieren, dann erfahren müssen, dass es keinerlei gesetzliche Sicherheit für ihre Investition gibt, dann funktioniert das nicht. Wein kann man schließlich überall auf der Welt erzeugen.“
Es klingt zum Verzweifeln, aber wieder einmal ist die Situation komplexer, als es auf den ersten Blick aussieht. Denn tatsächlich gibt es trotz der enormen Schwierigkeiten durchaus Investitionen, Initiativen, Versuche, wirklich gute und international konkurrenzfähige Weine zu erzeugen. Und das nicht nur in der Kellerei von Mileștii Mici, einer der bekanntesten des Landes. Das ist sie allerdings nicht wegen ihrer eigenen Weine – obwohl einige davon von durchaus guter Qualität sind –, sondern wegen ihrer spektakulären, in den Fels gehauenen Kellergänge, den mit 200 Kilometern Länge – 50 davon werden auch heute noch genutzt – ausgedehntesten weltweit, in denen 1,7 Millionen Flaschen ausgewählte Weine aus allen moldawischen Erzeugerbetrieben lagern. Mileștii Mici ist deshalb wohl auch weniger ein Trumpf für die Zukunft der moldawischen Weinbranche als viel mehr einer für die nationale Tourismusindustrie.
Überzeugender ist da schon, was Château Vartely in der nördlich von Chișinău gelegenen, viertgrößten Stadt des Landes, Orhei, zu bieten hat. 2006 mit privatem Kapital gegründet, hat der Betrieb sowohl auf Wein als auch auf Tourismus gesetzt. Zwar leidet auch Vartely unter der unzulänglichen Infrastruktur des Landes – die Kellerei wurde nicht inmitten von Weinbergen, sondern in einer Großstadt angesiedelt, in der eine einigermaßen sichere Stromversorgung gewährleistet war –, aber was die Qualität der Weine wie auch die der Unterkünfte für Touristen und der Restaurants betrifft, braucht sich das Château vor keiner nationalen Konkurrenz zu verstecken.
Das gilt auch für eine Reihe der Betriebe, die ihre Weine seit einiger Zeit einmal im Jahr auf einer großen „Vernissage“ anbieten, die im pompösen Palast der Republik der Hauptstadt organisiert wird. Mit von der Partie wieder das gesamte Büro von „Wine of Moldova“, Gheorghe Arpentin an vorderster Front. Was dort beim einen oder anderen Erzeuger vor allem im Segment der kräftigen Roten zu verkosten ist, besitzt durchaus Charakter und organoleptische Tiefe. Gitana, Fáutor, Novak, Cristi oder Carlevana heißen die Weingüter, deren Weine – häufig auch solche aus einheimischen Rebsorten wie etwa der Feteasca neagra – auch westlichen Gaumen gefallen können.
Und hier zeigt sich auch, dass Arpentin mit seiner Einschätzung, der Weinmarkt Moldawiens seit trotz aller Handicaps dabei, sich langsam, ganz langsam zu entwickeln, nicht falsch war. Es sind zwar noch immer vorwiegend die Schönen und die Reichen der kleinen sozialen Oberschicht, die im Deltaflug durch die überdimensionierten Hallen segeln – der Chef vorneweg, die kleinen Bosse und hübschen Assistentinnen im Schwarm dahinter –, aber immerhin scheinen sie nicht mehr die altbackenen, oxidierten Weine der Vergangenheit zu goutieren, sondern die wirklich guten. Vor deren Ständen denn auch zu Recht die dichtesten Menschentrauben auf ihren Schluck Wein warten.
Dieser Artikel wurde zuerst in enos 1/2020 veröffentlicht.
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