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Es gibt ein Leben nach dem Weine

Die Weinwelt ist reich an Quer-, Seiten-, Kopfüber- oder Gehunter-Einsteigern. Advokaten, Industrielle, Künstler, Schauspieler, Regisseure und Bankiers haben sie schon lange als Zeitvertreib oder auch für das seriöse Investment entdeckt. Und Weinmedien berichten über sie. Wann immer ein Sting, Jauch oder Depardieu, eine Jolie oder eine Muti ins Weingeschäft einsteigen, ist das eine Story wert. Jedoch: Es gibt auch die umgekehrte Karriere; die von Menschen, welche trotz erfolgreicher Arbeit die Weinwelt hinter sich ließen, um in anderen Berufen ihre Erfüllung zu finden. Es sind Karrieren, über die meist der Mantel des Vergessens gebreitet wird. Eine von denen, die ihr Leben nach dem Weine entdeckten, ist die Florentinerin Lisa Venerosi. enos besuchte sie in ihrem Atelier unweit des weltberühmten Museums von Palazzo Pitti.

(Fotos: E. Supp)

Hier hinten herrscht Ruhe. Autos fahren keine, Touristen verirren sich selten in die Via del Ronco. Die Mauern sind hoch, auch die zum berühmten „Parco di Boboli“ am hinteren Ende der eher bescheiden wirkenden Sackgasse. Einst residierte hier eine Kerzenfabrik; von ihr ist der große Schornstein übrig geblieben. Und natürlich die Werkstätten, in denen heute eine Handvoll kleiner Betriebe untergebracht sind.

Die bescheidene Umgebung täuscht. Unter den Nachfolgern der Kerzendreher versteckt sich nämlich auch eine Gruppe Restauratorinnen. In ihren Sälen geht Prominenz ein und aus. Teure, sehr teure Prominenz, die aufmerksamer Behandlung bedarf. Raffaello und El Greco, Bellini, Vasari und Velásquez heißen die Stars, die in der Via del Ronco von kundigen Händen wieder zum Glänzen gebracht werden.

Eine der Gründerinnen der Gruppe ist Lisa Venerosi-Pesciolini, Abkömmling einer uralten Florentiner Patrizierfamilie. Dass Lisas Berufung das Restaurieren antiker Kunstwerke sein sollte, ihr Arsenal Messer, Pinsel und Farben, war nicht immer selbstverständlich. Es hätten statt dessen auch Traktoren, Pressen, Filter oder Barriquefässer sein können, ihre Patienten auf Namen wie Sangiovese und Cabernet Sauvignon hören. Denn Lisa war in den 1980er Jahren auf dem besten Wege, die Leitung des elterlichen Weinguts zu übernehmen. Die Tenuta di Ghizzano in der Provinz Pisa zählte schon damals zu den renommiertesten der Toskana, bekam für ihren „Veneroso“ fast auf Anhieb die begehrten „drei Gläser“ des Weinführers „Gambero Rosso“.

Lisa muss schmunzeln, wenn sie an diese Zeit denkt. „Ja, meine Familie hat schon seit 1368 Wein gemacht, wenn ich das Datum richtig im Kopf habe. Aber eben Wein ‚così‘ … zum Hausgebrauch, ohne Ansprüche. Und dann kam der 85er Veneroso, der erste, der mit Hingabe, mit viel Sorgfalt gemacht wurde. Er entstand in Zusammenarbeit mit Pier Mario Meletti Cavallari (Weinhändler und Besitzer des toskanischen Weinguts Grattamacco, d. Red.), der vom Potenzial unserer Lagen überzeugt war. Die waren zwar damals noch aus den 1930er Jahren mit minderwertigen Sangiovese-Reben der Romagna bepflanzt, aber auf Anregung Pier Marios wurden die alten Stöcke sukzessive durch hochwertige ersetzt. Er war es auch, der an den Cabernet Sauvignon glaubte.“

Ich hatte“, erinnert sich Lisa, „damals gerade mit der Ausbildung an der Restauratorenschule angefangen. Aber ich wollte auch unbedingt in der Nähe von ‚babbo‘ sein. Vater war ein sehr lieber Mensch, aber auch ein Dickkopf. Und die einzige Möglichkeit, Nähe zu ihm herzustellen, war, mit ihm zusammenzuarbeiten. Ich fragte ihn also, ob er Arbeit für mich hätte, und er bat mich, ihm mit dem neuen Wein zu helfen. Mit dem Verkauf, der Vermarktung.“

In einer ehemaligen Kerzenfabrik habe Lisa Venerosi und ihre Kolleginnen ihre Werkstatt eingerichtet. Hier „gehen“ Raffaello und El Greco, Bellini, Vasari und Velásquez ein und aus.

Vom Weinverkauf hatte Lisa keine Ahnung, aber immerhin wusste sie, dass die Veroneser Weinmesse Vinitaly wichtig war. Also schnappte sie sich zwei der damals gerade mal 7.000 pro Jahr produzierten Flaschen und zog, mit Röckchen, weißer Bluse und rundem Kragen aufgehübscht, los. „Ich kriege noch heute feuchte Augen, wenn ich daran denke.“

Die Entscheidung, für den Vater zu arbeiten, ist kein Fehlschlag. Dessen Freund Pier Mario empfiehlt Lisa nämlich, einen Kurs auf der Weinbauschule von San Michele all’Adige zu belegen. „Und da habe ich wirklich viel gelernt, das war ein komplettes Eintauchen ins Weinmilieu – in den Weinbau, die Önologie und ins Weinverkosten. Und jede Menge Leute habe ich kennengelernt, die später noch wichtig für mich sein sollten.“

Erfolg also auf ganzer Linie, für Lisa, für den Wein, für den Betrieb. „Der Erfolg war derart fulminant, dass ich mich rasch an einem Punkt wiederfand, an dem ich mich entscheiden musste. Die Ansprüche der Schule, die Rhythmen beim Weinverkauf … das alles war nicht miteinander vereinbar.“ Immerhin war ihr das mit der Restauratorenschule ja bei weitem nicht so umstandslos in den Schoß gefallen wie die Arbeit im elterlichen Weingut. „Ich hatte damit schon 1983 angefangen. Hart war das: Morgens studierte ich an der Uni von Pisa, um zwei stieg ich dann in den Zug, um in Florenz erst mal die Aufnahmeprüfung für die ‚Scuola di restauro‘ zu überstehen. Denn ich hatte ein klassisches Gymnasium besucht, keine Kunstakademie. War also aus Sicht der Schule gar nicht für die anspruchsvolle Ausbildung vorbereitet. Abends um zehn war ich dann zurück in Pisa, nur um am nächsten Morgen um sechs wieder auf den Beinen zu sein.“

Lisas Arbeit erfordert Fingerfertigkeit und höchste Konzentration. Gelernt hat sie auf einer der besten Schulen weltweit.

Ein wenig mysteriös scheint Lisa Venerosi ihre eigene Leidenschaft fürs Restaurieren zu sein, zumal es ja praktisch keine Vorgeschichte dafür gibt, keine familiäre, keine schulische. „Ich weiß auch nicht, woher die kommt. Wahrscheinlich entstand das, als ich als kleines Mädchen mit meiner Mutter den Petersdom besichtigte. Es war meine erste Reise im Flugzeug, ich war allein mit Mutter unterwegs. Und ich sah die vatikanische Pietà Michelangelos. Ich kann mich noch heute an meine Empfindungen erinnern. Die Idee, diese Schönheit zu beschützen, zu bewahren, hat mich wohl von da an nicht mehr losgelassen.“

Immerhin muss das Erlebnis so beeindruckend gewesen sein, dass sie nach der Schule ein ganzes Jahr in die Vorbereitung zur Aufnahmeprüfung investierte. Vergeblich? Bei der ersten Prüfung fällt sie durch. Nervenzusammenbruch! „Ich wollte es auf keinen Fall noch mal probieren, aber Kommilitonen überredeten mich zu einem zweiten Versuch.“ Den sie dann auch unternimmt. Ohne wirklich vom Sinn der Sache überzeugt zu sein, ohne sich dafür vorzubereiten. Und sie besteht vielleicht gerade deshalb.

Die anstrengende, aufwändige Ausbildung macht Lisa dann klar, dass sie eine Entscheidung treffen muss. Wein oder Kunst, arbeiten an der Seite des Vaters oder selbstständig, ohne den Schutz der Familie. „Es gefiel mir gar nicht, den Wein aufgeben zu müssen. Auch, weil das bedeutete, mich wieder von meinem Vater zu entfernen. Aber beides gleichzeitig? Das war nicht möglich, den Rhythmus hätte ich nicht lange durchgehalten.“

Da mein Vater zu jenem Zeitpunkt schon an Parkinson erkrankt war, konnte ich nicht einfach verschwinden. Ich suchte also eine Vertriebsorganisation, die meinen Part im Betrieb übernehmen konnte. Wie der Zufall will, stand auch meine jüngere Schwester Ginevra plötzlich ohne Arbeit da. Der Verlag, für meinem Vater zu entfernen. Aber beides gleichzeitig? Das war nicht möglich, den Rhythmus hätte ich nicht lange durchgehalten.“

Meiner Arbeit.“ Lisa wirkt nachdenklich. Als würde ihr die ganze Tragweite der Worte gerade erst klar. „Ja, im Weinbau zu arbeiten, hat enormen Spaß gemacht. Aber meine Arbeit hier ist komplexer. Das Restaurieren verschlingt dich von Kopf bis Fuß. Und mir erlaubte das Restaurieren, etwas Eigenes zu haben. Unabhängig von Vater zu sein. Es war wie erwachsen zu werden. Ich selbst zu werden.“ Dass die Trennung von Ghizzano radikal werden würde, ahnt Lisa da noch nicht. „Ich hätte mich gerne noch weiter um den Betrieb gekümmert, mich ein wenig eingemischt. Aber dazu hätte es eines guten Verhältnisses mit meiner Schwester bedurft.“

Restauriert wird alles, was vom Zahn der Zeit angefressen wurde, egal, ob auf Leinwand oder Holz gemalt.

Ein Verhältnis, das es nicht gab. „Ich hatte halt meine eigenen Überzeugungen. Und hätte auch meine Meinung gesagt. Die leider nie mit der meiner Schwester übereinstimmte. Deshalb musste ich weg. Ganz. Und habe mich von da an nicht mehr um Ghizzano gekümmert. Ginevra hat bestimmt seither eine tolle Arbeit gemacht. Sie reist das ganze Jahr rund um die Welt, von einer Messe zur anderen. Das hätte ich schon physisch gar nicht geschafft, dieses Leben wie ein Brummkreisel. Aber ich hätte andere Entscheidungen getroffen als sie. Ich hätte sicher die Weinbergsfläche nicht so stark vergrößert. Was vielleicht nicht mal die richtige Entscheidung gewesen wäre. Auf jeden Fall hätte ich mit meiner Meinung bestimmt nicht hinterm Berg gehalten. Und auch Ginevra war absolut überzeugt, nur sie sei auf dem für den Betrieb, für Ghizzano richtigen Weg.“

Dass das Restaurieren schnell zum erfolgreichen Vollzeitjob wurde, half bei der Entscheidung. Mehr als ein Hobby hätte ein Verbleib im Weingut nicht sein können. „Aber als Hobby …“ Alles weitere ergab sich fast automatisch. Die Aufträge flatterten auf den Tisch. In Florenz zu arbeiten, präjudizierte deren Charakter fast vollständig. „In Mailand hätte ich vielleicht eher mit zeitgenössischer Kunst zu tun gehabt, hier in Florenz sind es halt die Gemälde der Klassiker. Oder Holzskulpturen, Leinwände aus dem 17. Jahrhundert.“

In Florenz, wo sie das Metier gelernt hat, will Lisa auch arbeiten. Nicht in Pisa, nicht anderswo. Und das, obwohl ihr die Eingewöhnung in der Stadt schwer fällt. „Die Florentiner sind schon ziemliche Ekel. Und Florenz ist eine schwierige Stadt. Eine sehr schwierige. Ich habe mich hier nur eingewöhnt, weil ich viel Arbeit hatte. Beziehungen mit der Kulturbehörde, mit den Museen, den Banken. Wenn das stimmt, bist du in dieser Stadt akzeptiert. Einer Stadt, die bis vor zehn Jahren noch wundervoll war, lebenswert. Heute ist Florenz nur noch ein Chaos. Schuld daran ist die Verwaltung, die die Stadt nicht geschützt, sondern sie buchstäblich an die Touristen verfüttert hat. Heute kannst du nicht mal mehr über den Ponte Vecchio gehen, nicht über die via dei Calzaiuoli und nicht mehr am Dom vorbei. Überall rennst du dich in den Touristenmassen fest. Im Winter geht das noch, da ist diese Hölle noch erträglich, aber im Sommer …“

Atelier oder Baustelle? Manchmal ist das in den Ateliers der Via del Ronco nur schwer zu sagen.
Auch bemalte Holzskulpturen gehören zu den Kunstwerken, um die sich Lisa und ihre Kolleginnen kümmern. Fingerspitzengefühl und Hingabe gehören zu ihren wichtigsten „Werkzeugen“.

Ihre Hassliebe zur Stadt ist schließlich auch der Grund dafür, dass Lisa ihren Frieden mit Ghizzano machen kann. Der Vater hatte den Töchtern jeweils ein Haus auf dem großen Gut vermacht. Lisa und ihr Mann, der auch in Florenz arbeitet, nutzen es heute, um den Sommer über dort zu wohnen. Das bedeutet zwar, Tag für Tag drei, vier Stunden auf der Landstraße zu verbringen, aber besser als die Hölle von Florenz finden die beiden das doch.

Du muss halt jeden Tag um fünf aufstehen, um sechs losfahren, um dann um acht an der Arbeit zu sein. Aber gerade heute Morgen habe ich gedacht, wie herrlich das Land in diesem Licht am frühen Morgen und am späten Abend ist, wenn wir wieder nach Hause kommen.“

Die Schönheit der Weinberge, die Gleichmäßigkeit der Rebzeilen – das ist es, was Lisa an der Weinwelt immer noch fasziniert. Ansonsten ist sie weit weg. „So ist das mit den Entscheidungen im Leben. Sie führen dich oft weg von dem, woher du kommst. Auch mit dem Wein ist das so. Klar, ich trinke bei Tisch immer noch Wein, aber ich habe keine Lust mehr, mich in den vielen Verkostungen zu verlieren. Die Leute langweilen mich. Auf die Vinitaly bin ich nie mehr gegangen. Allein der penetrante Alkoholgeruch … Rotwein vertrage ich fast gar nicht mehr, der steigt mir sofort zu Kopf. Wenn es denn Roter sein soll, dann bin ich eher bei Nebbiolo aus dem Piemont oder beim Pinot. Auch Champagner trinke ich noch wirklich gerne.“

Spricht’s und greift wieder zu Lupe, Skalpell und Pinsel.

Dieser Artikel wurde zuerst in enos 1/2018 veröffentlicht.
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