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Der Spion der blauen Nonne

Es war einmal eine Zeit, da wurde das Bild des deutschen Weins vor allem im angelsächsischen Sprachraum von einem einzigen Wein, einem Weißwein bestimmt: „Blue Nun“, blaue Nonne, hieß der und war schon Anfang der 1920er Jahre vom Mainzer Weinhaus H. Sichel Söhne aus der Taufe gehoben worden. Richtig erfolgreich wurde er dann in den drei oder vier Jahrzehnten direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Es war die Zeit des kalten Krieges, der so genannten Entnazifizierung Deutschlands, des Wiederaufbaus all dessen – materiell oder immateriell –, wovon Nazidiktatur und Krieg nur Ruinen hinterlassen hatten.

Auch im Alter von 97 Jahren gehen Sichel die Projekte nicht aus. Derzeit arbeitet er an einem Film über die letzten 100 Jahre Weltgeschichte mit.

Blue Nun“ war der Versuch gewesen, das für die nicht deutschsprachige Welt unaussprechliche Liebfrauenmilch – abgeleitet vom Namen einer historischen Lage der rheinhessischen Stadt Worms – in eine leichter zugängliche Sprachform zu bringen, wie das englischsprachige Wikipedia weiß: Als das Etikett des „Blue Nun“ geschaffen wurde, sollte es eine konsumentenfreundliche Alternative zu unzähligen deutschen Weinetiketten mit langen, komplizierten Namen in gotischer Schrift bilden, heißt es dort.

Die Schöpfer des „Blue Nun“, eine jüdische Mainzer Familie, hatten zunächst erst einmal nicht viel von ihrer Schöpfung. Wenige Jahre nach der Machtergreifung durch die Nazis mussten sie nach Frankreich, von dort in die USA fliehen, ihr Firmenvermögen in Deutschland verkaufen. Es waren die Jahre, in denen Peter Sichel, einer der Enkel des Firmengründers, heranwuchs. Sein bewegtes Leben als Flüchtling vor den Nazis, der dann mit der amerikanischen Armee nach Deutschland zurückkehrte, in Berlin in leitender Position der CIA angehörte und schließlich in New York wieder ins Weingeschäft der Familie einstieg, hat Sichel in seiner kürzlich auch auf deutsch erschienenen Autobiographie (Die Geheimnisse meiner drei Leben, Frankfurt 2019, 464 Seiten, 24,00 EUR) niedergeschrieben. Grund genug, ihn in Manhattan zu besuchen.

Die Upper East Side gilt gemeinhin als eines der noblen Quartiere des Big Apple. Im Vergleich zum Luxus ringsum wirkt Park Avenue 941, auf Höhe des Metropolitan Museums nur zwei Blocks vom Central Park entfernt gelegen, allerdings eher bescheiden – die nicht allzu pompöse Lobby, der obligatorische Wachmann, der hinter den Plastikplanen einer Malerkolonne den Besucher telefonisch ankündigt, sind in diesen Breiten wohl Minimalstandard.

Peter Sichel öffnet trotz seiner fast 97 Jahre höchstpersönlich die Tür, nimmt dann am Kopfende eines großen Esstischs Platz. Alles, was er zum Arbeiten und Leben braucht, ist in Reichweite – Frühstück, Bücher, Notizen, Zeitschriften, sogar die Siri-Konsole und der Laptop. Ungeachtet regelmäßiger Besuche im Fitnessstudio des Condominiums, von denen er später erzählt, gibt es nämlich auch diese Tage, an denen der Körper nicht mehr so will, wie es der Geist gerne hätte.

Der allerdings ist hellwach, erstaunlich informiert und ins moderne Leben integriert – bis hin zur erwähnten Siri-Konsole. Erst im Nachhinein bekennt Sichel, er hätte das Gespräch lieber auf Englisch geführt – obwohl er selbst nach einem ersten Mailkontakt ins Deutsche gewechselt war. Höflichkeit gegenüber dem Besucher, dessen Englischkenntnisse er nicht einzuschätzen weiß? Oder Stolz? So muss er jetzt eben ab und an längere Pausen auf der Suche nach dem richtigen Wort einlegen.

Ansonsten ist Sichels Deutsch perfekt, bis in die letzte grammatikalische Finesse oder stimmliche Intonation. Nicht nur in diesem Punkt erinnert das Gespräch an ein vor Langem geführtes Interview mit Charles Josef Berg, damals ehrenamtlicher „chairman“ der Oper im australischen Sydney und seinerseits emigrierter deutscher Jude. Dessen Deutsch hatte nach Jahrzehnten fern von der Heimat nicht die Spur gelitten – ganz im Gegensatz zu so manch verfrühtem „Goodbye Deutschland“-Vorläufer, der oft bereits nach wenigen Monaten nur noch „denglisches“ Kauderwelsch sprach.

Sichel als Chef der Geheimdienstsektion „Peter“ in Berlin.

Es ist vor allem der erste, der für zeitgeschichtlich Interessierte vielleicht informativste Teil der Sichel’schen Autobiographie, der erstaunliche Parallelen zum Berg’schen Schicksal aufweist. Er handelt von der Judenverfolgung im Dritten Reich. Und von der Frage, warum so viele Juden – auch jene, die die Möglichkeit gehabt hätten – es versäumten, rechtzeitig das Land zu verlassen, um der Vernichtung zu entgehen.

Der Antwort von Berg – „Wie viele andere waren auch die deutschen Juden lange Zeit überzeugt, das Hitlerregime würde den ‚nächsten Winter‘ nicht überstehen“ – stimmt Sichel zu, aber seine Analyse geht weiter. „Es gab verschiedene Gründe. Ich glaube, einer der Hauptgründe war, dass die deutschen Juden sehr deutsch waren. Sie kämpften im Ersten Weltkrieg, waren – wie beispielsweise unser Rechtsanwalt – die größten Franzosenhasser, überzeugt, bessere Deutsche zu sein als sie Juden waren. Sie waren überzeugt, dadurch, dass sie nicht an ihre jüdische Religion glaubten, nicht vom Antisemitismus betroffen zu sein. Und sie dachten mit wenigen Ausnahmen nicht politisch.“

Insgesamt gesehen hatten wir natürlich auch dadurch ein Privileg, dass wir als Weinhändler schon vor 1933 geschäftlich in England und Frankreich aktiv waren.“ Vor allem aber hatte Sichel das Glück, dass seine Mutter zu den wenigen Ausnahmen gehörte. „Sie wurde erzogen in einem Haus, in dem der Vater politisch aktiv war, einem liberaleren Haushalt.“ Das ließ sie deutlicher als andere verstehen, welche Gefahr von den Nationalsozialisten drohte, und nicht nur das: Sie spürte auch oft als Erste, wie sich die Dinge entwickelten. Sagte im französischen Exil früh die Kapitulation der Grande Nation vor Hitler voraus.

Dass die Mutter mit 17 Jahren auf ein englisches Internat geschickt worden war, beeinflusste wohl später die Entscheidung der Eltern, auch Sohn Peter dort in die Schule zu schicken, nachdem einmal der Beschluss gefasst war, Deutschland den Rücken zu kehren. „Bei uns wurde die Entscheidung, das Land zu verlassen, getroffen, nachdem klar geworden war, dass Juden nicht mehr dieselben Menschenrechte hatten. Meine Eltern stellten schon 1934 einen entsprechenden Antrag, der wurde aber abgelehnt, da wir als Devisenbringer ‚wichtige Juden‘ waren. ‚Man muss sie gut behandeln‘, stand in unseren Akten, da fiel bei uns der Groschen.“

Wenn ausgerechnet die emigrierten jüdischen Weinhändler dafür sorgten, dass im Krieg gegen Nazideutschland selbst in England und den USA weiterhin deutscher Wein getrunken wurde, gehört das wohl zu den Paradoxien der Geschichte. „Ich kann’s nicht erklären. Schwierig“, lautet Sichels achselzuckende Antwort. „Vielleicht hat es damit zu tun, dass die jüdischen Weinhändler noch vor Kriegsbeginn große Mengen Fassware importiert hatten und das dann als Massenwein verkaufen mussten, um die Kriegsjahre wirtschaftlich zu überstehen.“ Der – deutsche – Wein reichte auch bei den Londoner Sichels „gerade so“ für die Dauer des Krieges.

Peter Sichel selbst, der es mit seiner Familie nach New York geschafft hatte, engagierte sich zum Kriegseintritt der USA in der amerikanischen Armee beziehungsweise ihrem Geheimdienst OSS, dem Vorgänger der CIA, die ihn prompt nach Europa und Deutschland zurückschickten. Solcherart militärisches Engagement deutscher Exilanten war in jener Zeit nichts Ungewöhnliches; auch der Schriftsteller Max Frisch und die Philosophen Herbert Marcuse und Max Horkheimer hatten sich bei den amerikanischen Services verdingt.

Für Sichel sind es Jahre, an die er fast ausschließlich positive Erinnerungen hat, sieht man von Lastern wie dem Rauchen und Trinken ab. „Man war jung und hat zu viel getrunken. Wenn ich mir das heute überlege … Wir haben zu Hause gegessen, sind dann betrunken in die Oper gefahren. Aber wir haben es überlebt und sind keine Alkoholiker geworden.“ Nicht alle jedenfalls.

So kritisch er in der Beschreibung des ersten und letzten seiner „drei Leben“ beobachtet, so sehr steht er ungebrochen hinter seinen geheimdienstlichen Aufgaben während und unmittelbar nach dem Weltkrieg. Sein Verhältnis zu den Deutschen wird dabei wieder differenzierter. „Ich habe ja im Krieg mit Deutschen gearbeitet. Und festgestellt, dass es gute und schlechte Deutsche gab. Nach dem Krieg arbeitete ich viel mit deutschen Politikern. Es ging dabei hauptsächlich darum, Spionage gegen die Russen zu treiben, um sicher zu sein, dass sie den Westen nicht überfallen.“

Auf der anderen Seite wollten wir unterstützen, was an Gutem zu unterstützen war. Dabei gab es immer noch Dinge, die mir unerklärlich blieben. Zum Beispiel beschreibe ich im Buch ein Mittagessen im Hause Maurer in Heidelberg. Herr Maurer war der Vater meines besten Freundes aus der Vorkriegszeit. Der mich dann aber fragte: ‚Wie konntest du nur gegen die Deutschen …?‘“ Lacht und will den Satz nicht beenden. „Es gibt Leute, die akzeptieren unsere Haltung bis heute nicht. Und es dauerte 20 Jahre, bis wir das Phänomen der alten Nazis in Justiz und Verwaltung der Bundesrepublik verstanden und darüber hinweg kamen.“

Eine Weile dauerte es auch, bis Sichel verstand, dass die CIA im Verlauf des Kalten Krieges zu einer anderen Organisation wurde – vom Nachrichtendienst zur militärischen Aktionstruppe, wie er es im Buch beschreibt. Die er dann Mitte der 1950er Jahre verließ und bis heute mehr als kritisch sieht. Kritisch wie die Manipulation des eigenen Außenministers Colin Powell vor dem zweiten Irakkrieg. Kritisch wie „seinen“ derzeitigen Präsidenten oder auch dessen aktuellen Außenminister. „Der ist fanatischer Protestant. Unglaublich! Unglaublich!“ Ihm gehen die Worte aus. Auch im Buch hat er eine Linie von Luther über Bismarck bis zu Hitler gezeichnet. „Sie wissen, dass Bismarck ein rabiater Protestant war“, fragt er, „und Luther war ein Antisemit. Eine Linie. Und jetzt wird alles noch komplizierter. Ob die Welt das überlebt, ist eine große Frage. Eine, bei der alle zusammenarbeiten müssen. Wir geben unser Geld für Waffen aus, die man nicht mehr benutzen kann, und kümmern uns nicht darum, dass die Welt vielleicht nicht mehr lebensfähig ist.“

Die US-Interventionen der letzten Jahrzehnte nennt er kolonialistisch („Amerika war und ist noch zum Teil ein Kolonialstaat, der die Leute unterdrückt, sich eingemischt hat in die Politik anderer Staaten, was die Dinge noch schlimmer machte“), und auch in der Migrationsfrage kriegen die Reichen der Welt ihr Fett ab. „Lenin hätte gesagt, die Leute stimmen mit ihren Füßen ab. Statt Bomben zu werfen, hätte man diese Gesellschaften unterstützen müssen, damit die Menschen zu Hause leben können.“

Dass Sichel nach seiner Zeit in amerikanischen Diensten wieder ins Weingeschäft einstieg, von dem er eigentlich wenig Ahnung hatte, findet er im Rückblick nicht erstaunlich. „Ich wäre gerne Mediziner geworden, aber dazu war es jetzt zu spät. Das Studium war lang. Und ich hatte ja einen Bezug zum Wein, erzogen in einem Weinhändlerhaushalt. Vor dem Krieg hatte ich in Bordeaux gearbeitet. Vor allem war ich überzeugt, dass ich von außen kommend Ideen hatte, die man sonst nicht gehabt hätte. Und so war’s!“

Ich habe mein ganzes Leben lang von einem profitiert – dass ich gut mit Menschen umgehen konnte und dass ich überzeugt war, nicht immer selbst die letzte Antwort zu haben. Dass ich wusste, es gab viele Leute, die waren intelligenter als ich. Dass ich Leute engagieren musste, die all das gut machten, was ich nicht konnte. Sowohl in der CIA als auch später im Weinhandel habe ich delegieren gelernt.“

Mit diesen Fähigkeiten war Sichel die Idealbesetzung für das Krisenmanagement im familieneigenen Weinhandel, das im Laufe der folgenden Jahre immer dringlicher wurde. Vor allem, als in den 1980er Jahren der Erfolg des „Blue Nun“ ins Stocken geriet. „Es war der Markt, der sich änderte, und wir haben dabei Fehler gemacht. Ich wollte Weine unter der Flagge der Rebsorte verkaufen. Hatte verstanden, dass Chardonnay der neue ‚Blue Nun‘ war. Dass die Leute Sortennamen lernten. Aber da haben meine Partner nicht mitgemacht. Die glaubten, die guten Zeiten würden nie aufhören. Hatten nicht verstanden, dass sich der Markt änderte, die Kultur.“

Ich hatte inzwischen Moët-Hennessy als Partner für Sichel gewonnen. Die Produktion war immerhin von 100.000 auf 2,5 Millionen Kisten, 30 Millionen Flaschen, angewachsen, und da brauchte es Investitionen. Mit den Banken aber war das so eine Sache.“ „Blue Nun“ hatte nicht zufällig so großen Erfolg gehabt. Mit dem Wein waren die Sichels auf gleich mehreren Gebieten für die Weinbranche Pioniere gewesen: dem systematischen Aufbau einer starken Marke, dem Schalten von Werbekampagnen, dem Einführen des glasweisen Ausschanks, dem Propagieren von Wein als Speisenbegleiter.

In deutlichem Kontrast zur lupenreinen Karriere, die der Sichel’sche Markenwein in den Nachkriegsjahrzehnten erlebte, steht die Schilderung des New Yorker Weinhandels in jener Zeit, vor allem in den 1970ern. Mit einem Wort: Korruption! Und zwar Korruption durch und durch. „Unglaublich“, schüttelt Peter Sichel noch heute den Kopf. Nein, seine Geheimdiensterfahrung hält er nicht für den Grund, dass ihm diese Korruption auffiel und aufstieß. „Ich habe eines immer gewusst: Wenn ich da mitmache, bin ich früher oder später im Gefängnis.“ Und davor hätte ihn auch seine einstige CIA-Angehörigkeit nicht geschützt. „Es hätte zumindest viel Geld gekostet. Einige in der Firma wurden ja verurteilt, und wir mussten zwei, drei Millionen Dollar zahlen.“

Ob das Phänomen denn nach den 1970ern verschwand? Sichel lacht: „Es wurde kleiner“, und erklärt, warum diese Korruption vor allem die USA betraf, er sie zumindest in diesem Ausmaß in Europa nicht vorfand. „Die Gesetze in Europa sind ja anders. Hier in den USA durfte man etwa als Privatperson keine Weine importieren, auch nicht aus anderen Bundesstaaten, man durfte nichts unternehmen, um den Verkauf anzukurbeln. Das kam alles durch die Prohibition. Als die aufhörte, war der Weinhandel nicht mehr Gegenstand von nationalen Gesetzen, sondern jeder Staat hatte seine eigenen.“

Das Gespräch ist lang geworden, die Pausen länger. An einem heißen Tag wie diesem lässt die Kraft auch bei Jüngeren schneller nach. Umso beeindruckender, was Sichel sich an Lektüreprogramm noch aufbürdet. Der Bücherstapel gleich neben der Eingangstür hatte nicht den Eindruck gemacht, er sei nur zur Dekoration dort platziert worden. Obenauf Walter Benjamin und Spinoza. Die Brüder Grimm auf Englisch. Nietzsche direkt unter der „24 Hour Wine Experience“, darunter wieder die „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“.

Der Bogen schließt sich. Sichels Wissens- und Tatendrang scheinen ungebrochen. Filmemacher sind auf ihn aufmerksam geworden. Sie wollten einen Film über eine ostdeutsche Nachrichtenoperation gegen Westdeutschland drehen, und da war Sichel natürlich die beste denkbare Quelle. Aus dem anfangs überschaubaren Thema wurde der Versuch, die letzten 100 Jahre Weltgeschichte zu beleuchten. Sichel erklärt: „Wir haben zwei Probleme: Die Leute kennen ihre eigene Geschichte nicht. Sie müssen erstens die kennenlernen und zweitens die Prioritäten lernen. Was wichtig ist und was unwichtig ist. Die Amerikaner glauben alle, dass sie die Weisheit erfunden haben.“ Und Sichel, mit seinem Leben, mit dem, was er in mehr als 80 Jahren von dieser Geschichte aktiv miterlebt hat, mittendrin und auf der Höhe der Zeit. „Ein sehr interessantes Projekt, und Sie wissen, es gibt ein Riesenbedürfnis nach Filmmaterial durch das Streaming, Netflix und so weiter.“ Dem ist dann nichts mehr hinzuzufügen.

Dieser Artikel wurde zuerst in enos 4/2019 veröffentlicht.
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